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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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blinzelnd an. »Wer ist er, eh?«
    »Mr. Anil Munshi, Seth Bahramjis Briefschreiber. Suchen Sie nicht einen Korrekturleser?«
    Comptons Augen weiteten sich, sodass sie hinter den dicken Brillengläsern unnatürlich groß erschienen. »Gam a? Korrekturleser! Ist wahr?«
    »Ist wahr.«
    Minuten später saß Nil auf einem Papierballen und prüfte gewissenhaft die Druckfahnen der nächsten Ausgabe des Register . Am Ende des Tages nannten er und der Drucker einander bereits beim Vornamen. Compton hatte ihn gebeten, das »Mr.« wegzulassen, er selbst war zu Ah-Nil geworden. Er verließ die Druckerei mit einer um sein Handgelenk geschlungenen Schnur Käsch und kam an nächsten Tag wieder.
    Compton hatte einen weiteren Satz Druckfahnen fertig, und während Nil sie durchsah, fragte er: »Haben Sie etwas von einem neuen Gouverneur gehört? Einem gewissen Lin Zexu?«
    Compton warf ihm einen überraschten Blick zu: »Hai-ah! Gam Sie haben auch gehört?«
    »Ja. Wissen Sie etwas über ihn?«
    Compton lächelte. »Maih-haih! Lin Zexu ist großer Mann, einer von besten Dichtern und Gelehrten in China. Hat großen Geist, offenen Geist, immer will lernen Neues. Mein Lehrer sein Freund. Spricht von Lin Zexu viel.«
    »Und was sagt er?«
    Compton senkte die Stimme. »Lin Zexu nicht wie andere Mandarin. Ist guter Mann, ehrlicher Mann, bester Beamter in Land. Wo es gibt Probleme, er wird geschickt. Nie nimmt cumshaw, nichts – jan-haih! Wird Gouverneur von Kiangsi, wenn noch sehr jung. In zwei Jahren er stoppt Opiumhandel dort. Leute dort nennen Lin Ch’ing-t’ien, bedeutet ›Lin klarer Himmel‹.«
    Compton legte einen Finger an den Mund. »Besser nicht sagen Ihr Herr bo. Macht so viel Sorgen sonst. Dak?«
    Nil nickte. »Dak! Dak!«
    Bald wurde es Nil zur Gewohnheit, seine freie Zeit in der Druckerei zu verbringen, und manchmal führte Compton ihn durch einen schmalen Gang in seinen Wohnbereich. Dieser Teil des Gebäudes hatte zwei Stockwerke, und die Zimmer waren um einen Hof herum angeordnet, der, obwohl gepflastert, mit seiner Fülle an Topfpflanzen, Bäumen und Weinstöcken wie ein Garten wirkte. Darüber spannte sich ein Schattendach aus flatternder Wäsche, die an Schnüren zwischen den Balkongeländern trocknete. An der Seite stand ein Kirschbaum, dessen Blätter sich bereits verfärbten.
    Wenn Nil erschien, verschwanden die Frauen und nur die Kinder blieben, von denen es hier viele gab. Oft sah er Gesichter, die er noch nie zuvor gesehen hatte, und gewann so den Eindruck einer Großfamilie, zu der sich häufig noch Besucher gesellten. Es überraschte ihn nicht, als Compton ihm erzählte, dass seine Familie aus Chuenpi stamme, einem Dorf an der Mündung des Perlflusses, und er deshalb oft Verwandte zu Gast habe.
    Compton selbst war nicht in Kanton geboren und auch nicht in der Stadt aufgewachsen. Als Kind hatte er viel Zeit auf dem Wasser verbracht. Sein Vater war Schiffskomprador gewesen, und die Familie war während der Handelssaison meist im Kielwasser ausländischer Schiffe zwischen der Bogue und Whampoa hin- und hergereist.
    Ein Schiffskomprador hatte andere Aufgaben als ein Faktoreikomprador, der wie die Dubashes in Indien ausländische Händler mit Vorräten versorgte, nachdem sie sich in Kanton niedergelassen hatten. Schiffskompradoren waren eher so etwas wie Schiffsausrüster und belieferten die Schiffe mit Lebensmitteln und Material. Im Gegensatz zu den Faktoreikompradoren, die enge Beziehungen zu den Cohong-Kaufleuten unterhielten, agierten Schiffskompradoren unabhängig und nicht im Auftrag mächtiger Dienstherren. Ein heftiger Konkurrenzkampf herrschte unter ihnen. Als Kind hatte Compton zu Anfang der Saison immer abwechselnd mit seinem Vater von einem nahen Hügel aus nach der Opiumflotte Ausschau gehalten. Sobald sie das erste Schiff erspähten, rannten sie in den Hafen hinab und machten den Sampan der Familie los. Dann begann eine wilde Wettfahrt mit dem Rest der Bumbootflotte. Wer als Erster bei den einfahrenden Schiffen anlangte, hatte die besten Chancen, als Komprador angeheuert zu werden, vor allem, wenn die Familie den Kapitän kannte. Wer Glück hatte und schnell genug war, konnte sich dann einen Kontrakt sichern, der ihm für die nächsten Wochen Arbeit gab.
    Comptons Familie war schon so lange im Geschäft, dass die Kapitäne und Mannschaften vieler ausländischer Schiffe sie kannten; einige engagierten sie jedes Mal, wenn sie nach Südchina kamen. Zu ihren ältesten und treuesten Kunden gehörten die

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