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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Schiffe der in Boston ansässigen Firma Russell & Co. Durch sie hatten sie einen großen amerikanischen Kundenkreis erworben, von dem sie wiederum Empfehlungsschreiben für weitere amerikanische Schiffe erhielten. Einige ihrer Auftraggeber blieben auch noch mit ihnen in Verbindung, wenn sie längst nicht mehr über die Meere segelten, und gaben jüngeren seefahrenden Verwandten sogar kleine Geschenke und Andenken für sie mit. So hatten sie Briefe von einem Mr. Coolidge erhalten, einem Mr. Astor und einem Mr. Delano, alles Vertreter der führenden Familien Amerikas, wie sie später erfahren hatten. Ein Kantoner Händler namens William Irving hatte ihnen sogar ein von seinem Onkel Washington Irving verfasstes Buch mit dem Titel Die Alhambra geschenkt. Leider erinnerte sich Compton nicht mehr an den Mann; für ihn war er nur einer von Hunderten freundlicher Reisender gewesen, die ihm Englisch beigebracht hatten.
    Sobald Compton laufen gelernt hatte, begleitete er seinen Vater auf die ausländischen Schiffe. Seines einnehmenden Wesens wegen erfreute er sich bei Matrosen und Offizieren großer Beliebtheit. In Whampoa, wo die einlaufenden Schiffe stets mehrere Wochen vor Anker liegen mussten, vertrieben sich die Besatzungen die Zeit damit, mit dem Jungen Englisch zu sprechen. Er lernte schnell, und da seine Familie dank seiner Sprachkenntnisse viele neue Kunden gewann, wurde er für sie zu einem unschätzbaren Aktivposten. Später brachte ihm seine Begabung eine Arbeitsstelle in der De-Souza-Druckerei in Macao ein. Doch er druckte dort nicht nur; während seiner Lehrzeit kam ihm auch die Idee, seine Englisch- und Chinesischkenntnisse zu kombinieren und ein Glossar des Kantoner Jargons für seine Landsleute zu verfassen.
    Für Nil wurde der Titel des Büchleins mit Die-gebräuchliche-Geister-Kauf-und-Verkauf-Sprache-der-rothaarigen-Menschen übersetzt. Bekannter war es jedoch unter dem Namen Fremde-Teufel-Sprache – Gwai-lou-waah , und es verkaufte sich sehr gut, viel besser, als sein Autor es sich je hätte träumen lassen. Die Einnahmen daraus hatten es ihm ermöglicht, in Kanton eine eigene Druckerei zu gründen.
    Mehrere Jahre später erfreute sich die Fremde-Teufel-Sprache noch immer unverminderter Beliebtheit. Viele Verkäufer und Ladenbesitzer hatten stets ein Exemplar zur Hand, und so war sie in Fanqui-Town ein vertrauter Anblick. Der Umschlag zeigte einen Europäer des achtzehnten Jahrhunderts mit Kniehosen, Strümpfen, einem mit Schnallen versehenen Mantel und einem Dreispitz. In der einen Hand hielt er einen dünnen Spazierstock, in der anderen ein Taschentuch – zumindest hielt Compton es für eines. Taschentücher seien früher für die Menschen in China etwas Faszinierendes gewesen, erklärte er Nil, viele hätten geglaubt, die Europäer transportierten und bewahrten darin ihren Nasenschleim auf, ähnlich wie in China sparsame Bauern ihre Exkremente auf die Felder brächten.
    Der Umschlag der Fremde-Teufel-Sprache war Nil schon früher ins Auge gefallen, und er hatte sich so manches Mal gefragt, was darin stehen mochte. Staunend erfuhr er jetzt, dass es sich um ein Glossar handelte, und stellte zu seiner Freude fest, dass der Verfasser niemand anders war als sein Teilzeit-Arbeitgeber.
    Von dem ausschließlich chinesischen Inhalt verstand Nil kaum etwas, doch als der Wörternarr, der er war, hatte er sich Hals über Kopf in die chinesischen Schriftzeichen verliebt. Für ihn gab es in Kanton keine größere Freude als die allgegenwärtigen Ideogramme – auf Ladenschildern, Toren, Regenschirmen, Karren und Booten. Einige kannte er bereits, den Buchstaben λ etwa, der leicht zu behalten war, weil die beiden Schenkel seine Bedeutung repräsentierten, nämlich »Mann«. Das galt auch für »groß«, auf seine geheimnisvoll evokative Art lediglich durch einen Mann mit ausgestreckten Armen dargestellt, und »Dollar«, dessen Symbol in Fanqui-Town auf unzähligen Ladenschildern prangte. Nachdem Nil einmal auf die Zeichen aufmerksam geworden war, sah er sie überall. An den unerwartetsten Stellen sprangen sie ihn förmlich an und schwenkten ihre Glieder, als wollten sie ihn auf sich aufmerksam machen.
    Beim Durchblättern der Fremde-Teufel-Sprache stellte Nil überrascht fest, dass der erste Eintrag zwei Ideogramme zeigte, die er bereits kannte: das Zeichen für »Mann« und das Dollarzeichen. Die Kombination machte ihn stutzig. Verbarg sich dahinter vielleicht eine subtile philosophische Aussage?
    Compton musste

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