Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Rückkehr fand er den Steg so leer wie zuvor. Die anderen Gäste waren längst weg, die Laternenträger auf dem Weg zurück zu Punhyquas Anwesen – in der Ferne sah man noch die Lichter auf und ab schaukeln.
Was sollte er jetzt tun? Es gab hier weder Boote zu mieten noch Passanten, die er hätte um Hilfe bitten können. Er wollte gerade kehrtmachen und den Laternenträgern folgen, als er zu seiner großen Erleichterung ein fernes Bimmeln wie von einer Bootsglocke vernahm. Es schien flussaufwärts langsam näher zu kommen. Der Bootsführer musste weggefahren sein und sich verirrt haben; er hatte also eine so gehörige Standpauke verdient, dass er sich für eine Weile nicht einmal mehr an den Namen seiner Mutter würde erinnern können. Während Bahram wartete, kramte er alle kantonesischen Kraftausdrücke, die er je gehört hatte, aus seinem Gedächtnis hervor und reihte sie zu der Schimpftirade aneinander, die er gleich loslassen würde.
Doch das Boot, das nun aus dem Nebel auftauchte, war nicht jenes, das ihn hergebracht hatte. Es war von Papierlaternen hell erleuchtet, und als es sich dem Landungssteg näherte, wurden seine Umrisse erkennbar. Sein Heck hatte die Form eines riesigen Fischschwanzes, der in elegantem Schwung aus dem Wasser aufragte.
Verblüfft starrte Bahram auf die Erscheinung – vielleicht eine vom Wein hervorgerufene Sinnestäuschung? Doch da drang eine Stimme über das Wasser zu ihm: »Mister Barry! Mister Barry!«
Es war Allow. Der Gauner musste den Bootsführer bezahlt und weggeschickt haben, um sich auf diese Weise doch noch die Chance auf ein Geschäft zu verschaffen, so viel war klar. Weniger klar war, woher er wusste, dass er, Bahram, hier sein würde, an diesem abgelegenen Bootssteg. Warum waren die sonst so dienstfertigen Laternenträger so schnell verschwunden? Konnte es sein, dass Allow einen Informanten unter Punhyquas Leuten hatte?
Oder regte ihn nur der Wein zu solchen Fantasien von Ränken und Verschwörungen an?
Wie auch immer – Bahram war nun einmal hier, er stand in einem Dschungel auf einem Steg, und es führte zu nichts, jetzt allzu empfindlich zu sein. Im Grunde war er – aus purer Erleichterung oder dank der wärmenden Wirkung des Weins – heilfroh, das Boot und auch Allow zu sehen. Aber das durfte er sich natürlich nicht anmerken lassen, und so räusperte er sich und herrschte ihn auf Kantonesisch an: »Diu neih Allow! Diu neih louh mou! Diu neih louh mou laahn faa hai!«
»Sorry, Mister Barry, so sorry.«
»Allow, verdammter Mistkerl, wo mein Boot? Du sprech mit Mann und schick weg?«
»Allow so sorry, Mister Barry. Allow woll schön Überraschung – in Allow Boot mitnehm. Nur bisschen spät.«
»Du mach so viel Tamtam für Mister Barry. Schau-seh: Mister Barry allein in Dschungel. Was, wenn Schlange beiß?«
Das Boot hatte inzwischen angelegt, und Allow stieg aus und verneigte sich tief vor Bahram. »Sorry, Mister Barry, so sorry ah. Komm jetzt, Allow bring Mister Barry zu Achha Hong.«
Bahram blieb nichts anderes übrig als die Einladung anzunehmen, aber er gedachte nicht, Dankbarkeit vorzutäuschen. Ohne Allow eines Blickes zu würdigen, marschierte er über die Planke ins Heck des Bootes.
Vor ihm lag der saalartige Raum, der einst Chi-meis Garküche beherbergt hatte. Der Eingang war zu einem reich verzierten Portal umgebaut worden, um dessen Pfosten sich Drachen und Phönixe wanden. Eine der Türen stand halb offen, und Bahram sah die Silhouette einer Frau vor einer roten Laterne. Er erschrak – der Anblick erinnerte ihn plötzlich an Chi-mei. Er sah sie vor sich, wie sie ihm durch den Flur entgegeneilte und mit ihrer hohen, wohltönenden Stimme rief: »Mister Barry! Mister Barry! Chin-chin.«
Er blieb stehen, aber Allow war dicht hinter ihm und machte eine Geste, als wollte er ihn zum Eingang geleiten. »Mister Barry nix woll rein?«
Bahram löste den Blick von der schattenhaften Frau. Er war kein gefühlsbetonter Mensch, und es lag ihm nicht, der Vergangenheit nachzuhängen; er hatte alles darangesetzt, keine Zeit mit sinnloser Trauer um Chi-mei zu vergeuden, und er wollte nicht von seinen Erinnerungen heimgesucht werden.
»Nein, Allow«, sagte er. »Nix woll rein. Woll hoch. Da.«
Er zeigte auf das Oberdeck und ging auf die Treppe zu. Erst als er die Hände auf das Geländer legte, wurde ihm bewusst, dass auch dies vielleicht keine gute Idee war. Das Oberdeck war der Teil des Bootes, den er am besten kannte. Es war Chi-meis Wohnbereich
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