Der rauchblaue Fluss (German Edition)
allzu positiven Selbstwahrnehmung, und er trat mitunter etwas forsch auf; statt an einem Tisch mit den Großen zu sitzen, sah er sich daher einem steten Strom von Rügen und Kränkungen ausgesetzt. Wenig hilfreich war es auch, dass sein Gehalt von hundert englischen Pfund pro Jahr, das anderswo vollkommen angemessen gewesen wäre, in Kanton ein Spottgeld war: Billy konnte es sich nicht einmal leisten, seine Wäsche waschen zu lassen.
»Ein anmaßender Bursche war er, dieser Billy, und stachlig wie ein Igel.«
Eines Sommers flüchtete er unter Missachtung von Sir Josephs Anweisungen auf die Philippinen, doch die Reise endete in einer Katastrophe: Auf dem Rückweg nach China vernichtete ein Taifun die Pflanzensammlung, die er in Manila zusammengestellt hatte.
Für Billy war das ein schwerer Schlag. Als Fitcher nach Kanton kam, lag diese Reise erst wenige Monate zurück. Fitcher sah ihm an, wie sehr ihm die Sache zusetzte; er zog sogar aus der britischen Faktorei aus und kappte damit die Verbindung zu seinen Landsleuten. Ein chinesischer Kaufmann überließ ihm bei Fa-Ti ein Stück Land zur Nutzung, und er baute sich dort eine Hütte. Fitcher besuchte ihn einmal und gewann den Eindruck, dass er in eremitenhafter Einsamkeit lebte. Sein »Haus« bestand aus einem einzigen Raum und war von Gruppen von Setzlingen und Reihen von Versuchsbeeten umgeben. Sein einziger Gefährte war ein dreizehn- oder vierzehnjähriger Junge namens Ah Fey, den er als Helfer eingestellt hatte. Dank seiner Arbeit bei Kerr sprach Ah Fey bereits fließend Englisch.
»Ist das der Ah Fey, der das Kamelienbild nach England gebracht hat?«
»Ja, genau der.«
Ah Fey führte seinen Auftrag erfolgreich aus, aber sein Weggang forderte einen Preis: Ohne den Jungen war Kerr einsamer denn je. Als Fitcher ihn das nächste Mal sah, befand er sich in elender Verfassung: Er war bis auf die Knochen abgemagert, und seine Augen zeigten einen gequälten Ausdruck, beides deutliche Anzeichen einer fortgeschrittenen Opiumsucht. Er wollte nur noch weg, und wenige Tage nach Fitchers Ankunft reiste er aus Kanton ab. Fitcher sah ihn nie wieder; kaum hatte er sich in Colombo niedergelassen, erlag er einem Fieber.
»Und Ah Fey?«
»Tja, das ist eine komische Geschichte … «
Nachdem Fitcher drei Jahre später nach England zurückgekehrt war, erfuhr er, dass Ah Feys Aufenthalt in den Kew Gardens unter keinem guten Stern gestanden hatte. Er hatte sich mit den Vorarbeitern angelegt und war auch mit der Familie, bei der er wohnte, in Streit geraten. Ein Geistlicher hatte den kleinen Wilden in der Hoffnung, ihn zu bekehren und seine Seele zu retten, bei sich aufgenommen. Ah Fey hatte es ihm damit gedankt, dass er ihn ausraubte und verschwand.
Noch jahrelang hieß es, er lebe unter falschem Namen in den Elendsvierteln East Londons, wo er den Karren eines Obst- und Gemüsehändlers schiebe.
»Haben Sie ihn einmal gesehen?«
»Nein«, antwortete Fitcher. »Und das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass er sich auf einem Schiff die Rückreise nach China verdiente. Aber das ist lange her – über zwanzig Jahre, wenn ich mich recht erinnere.«
Nachdem bei dem Bankett alle achtundachtzig Gänge aufgetragen, die letzten Trinksprüche ausgebracht und die Weingläser viele Male nachgefüllt worden waren, gab es kaum noch einen Gast, der nicht etwas unsicher auf den Beinen stand. Nun blieb nur noch, dem Gastgeber zu danken und die letzten chin-chins auszutauschen, dann machte sich Bahram mit einigen seiner englischen und amerikanischen Freunde auf den Weg zur Anlegestelle. Von Dutzenden von Laternenträgern begleitet, schlenderten sie Arm in Arm ans Wasser, und alle waren sich einig, dass das Bankett mit seiner herzlichen, geselligen Atmosphäre eines der schönsten überhaupt gewesen war.
Am Steg angelangt, verabschiedeten sie sich unter großem Hallo, dann trennten sie sich. Während die anderen in ihren Kähnen und Schaluppen davonfuhren, sah sich Bahram nach seinem eigenen Boot um, konnte es zu seinem Ärger aber nirgends entdecken. Die Ufer waren dicht bewaldet, und bei Einbruch der Nacht war Nebel vom Wasser aufgestiegen. Der Steg war kaum noch sichtbar, und nachdem Bahram ein paar Minuten gewartet hatte, kehrte er um und ging ein Stück am Ufer entlang, um zu sehen, ob sein Bootsführer vielleicht an einem ruhigen Ankerplatz eingeschlafen war. Er hielt erst in der einen, dann in der anderen Richtung nach ihm Ausschau, jedoch vergeblich, und bei seiner
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