Der rauchblaue Fluss (German Edition)
gewesen, und sie hatten abends immer dort gesessen, wenn er sie besuchte.
Der Gedanke kam ihm, dass sie womöglich dort oben gestorben war – konnte es sein, dass auch ihre Mörder diese Treppe hinaufgestiegen waren? Er dachte daran, Allow zu fragen, ob er wisse, in welchem Teil des Bootes sie getötet worden war, aber als sich die Frage in seinem Kopf formte, wurde ihm klar, dass er nicht imstande sein würde, einfach zu sagen: »Wo Nummer-eins Schwester mach sterb?« Es kam ihm vor, als würde das ihren Tod verharmlosen.
Und außerdem: Was würde es nützen, wenn er es wüsste?
Auf der Treppe zögerte er erneut: Vielleicht war es besser, er kehrte um und suchte sich woanders einen Platz. Aber eine morbide Neugier hatte ihn erfasst, und er konnte nicht mehr zurück. Rasch stieg er vollends hinauf und sah zu seiner unendlichen Erleichterung, dass Chi-meis Wohnung kaum wiederzuerkennen war: Ihre Wände waren rot und golden gestrichen, eine Reihe quastengeschmückter Laternen erhellte sie, Chi-meis Bett, die Stühle, die Wandschränke und der Altar waren entfernt und durch die übliche Einrichtung eines Blumenboots ersetzt worden: Sofas, Schemel, Teetischchen und dergleichen, alles kunstvoll verzierte Lackmöbel.
Bahram steuerte geradewegs auf den von einem Baldachin überwölbten Diwan auf dem Vordeck zu. Er war jetzt müde, und die Aussicht, sich setzen zu können, war ihm hochwillkommen. Er zog seine Schuhe aus und sank in die Kissen zurück.
Über dem Wasser lag noch immer der Nebel, aber der Himmel war klar. Bahram schaute zu den Sternen hinauf und dachte daran, wie schade es war, dass er und Chi-mei mit diesem Boot nie auf den Fluss hinausgefahren waren. Allow erschien, beugte sich herab und flüsterte ihm ins Ohr: »Mister Barry woll gai-girlie? Hab eins-a ›Silberhuhn‹. Sei-méi girlie, first-chop in alle vier Aroma, Fußleck auch. Kann all, was woll.«
Dieses plumpe Angebot machte Bahram wütend. »Nein, Allow«, herrschte er ihn an. »Nix woll Sing-song-girlie. Mh man fa! Heui sei laa!«
»Sorry, Mister Barry. So sorry!« Allow zog sich eilig zurück und ließ Bahram allein.
Inzwischen hatte sich das Boot in Bewegung gesetzt, sein Bug zerteilte den Nebel, und die kleinen Bugwellen rollten schattenhaft über das Wasser. Viele der Bootslaternen waren gelöscht worden, und die wenigen, die noch brannten, wurden im Nebel zu schwachen Lichtpunkten. Der Nebel war so dicht, dass er alle Umrisse verschwimmen ließ und Farben und Geräusche dämpfte; die Ruderschläge waren kaum noch zu hören.
Allow erschien wieder, in den Händen ein Tablett, über das ein gesticktes Tuch gebreitet war.
»Was-Ding du bring?«, fragte Bahram.
Allow setzte sich auf den Diwan und nahm das Tuch weg. Eine kunstvoll geschnitzte Elfenbeinpfeife kam darunter zum Vorschein, dazu eine lange Nadel und ein geschnitztes Opiumkästchen.
»Für was all das-Ding?«, fragte Bahram. »Nix woll ess Rauch.«
»Kein Problem, Mister Barry. Allow hier sitz, nehm klein-Stück Wolke. Wenn Mister Barry woll auch, kann Allow sag.«
Bahram versuchte, den Blick fest auf das Wasser zu richten, aber er kehrte immer wieder zu Allow zurück, der die Nadelspitze in das Opium tauchte und sie dann über den Docht einer Laterne hielt. Das Opium fing zischend Feuer, dann zog Allow an der Pfeife und sog den Rauch mit einem gierig pfeifenden Geräusch ein. Ein Hauch wehte zu Bahram herüber, und der süßliche Duft setzte ihn in Erstaunen – er hatte vergessen, wie anders dieser Geruch war als der des Rohopiums, wie angenehm und berauschend.
»Mister Barry woll bisschen? So viel gut innen.«
Bahram antwortete nicht, aber er protestierte auch nicht, als Allow ihm die Pfeife reichte und sie von Neuem anzündete. Er nahm das Mundstück zwischen die Lippen, und Allow gab einen winzigen brodelnden Tropfen Opium in die Schale. Bahram sog den Rauch ein, einmal, zweimal, und fast augenblicklich fühlte sich sein Körper leichter an. Die Sorgen und Ängste, die seit vielen Tagen unbarmherzig in seinem Kopf lärmten, verstummten nach und nach, und es war, als wäre er ein Schiff, das wieder zur Ruhe kommt, nachdem ein Sturm es hin und her geworfen hat.
Allow nahm Bahram die Pfeife aus den Händen und griff nach dem Tablett. »Mister Barry jetzt ruh. Allow komm wieder bald-bald.« Er entfernte sich mit den Utensilien, und Bahram lehnte sich zurück und schwelgte in einem grenzenlosen Wohlgefühl, wie nur Opium es zu spenden vermochte, in jener wunderbaren,
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