Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Fluren rußten und wurden zu spät angezündet, die Diener und Tagelöhner begannen sich in den Kaschemmen der Hog Lane herumzutreiben, oft bis in den frühen Morgen, sodass sie nicht rechtzeitig wieder auf den Beinen waren, um den daftar vorschriftsmäßig herzurichten. Damit hatte Bahram es früher sehr genau genommen, jetzt aber schien es ihn nicht mehr zu kümmern, dass seine Anweisungen missachtet wurden, er schien es nicht einmal zu bemerken. Es war, als wären zwei riesige Elfenbeinwürfel hochgeworfen worden, und alle, vom Seth bis hinunter zum niedersten Diener, warteten mit angehaltenem Atem darauf, dass sie wieder herabfielen.
Doch zumindest in Nils Hörweite verlor niemand ein Wort darüber, was genau Vico zur Anahita geführt haben mochte. Das Personal bildete eine festgefügte Gruppe, deren Mitglieder zwar unterschiedlichen Gemeinschaften und Verhältnissen entstammten, alle jedoch aus der Gegend von Bombay kamen. Als Außenseiter aus dem Osten – und überdies einer, der sich nicht hatte hocharbeiten müssen – wusste Nil, dass er argwöhnisch beäugt wurde und auf sein Benehmen achten musste. Er stellte keine unpassenden Fragen, und wenn in Sprachen, die ihm unbekannt waren – Gujarati, Marathi, Kachhi und Konkani – , geschäftliche Angelegenheiten besprochen wurden, bemühte er sich, nicht ungebührlich neugierig zu erscheinen. Er versäumte es jedoch nicht, aufmerksam zuzuhören, und gelangte bald zu dem Schluss, dass seine Kollegen nicht mehr über Vicos Mission wussten als er selbst. Sie waren nicht deshalb nervös, weil sie über den Auftrag des Zahlmeisters Bescheid gewusst hätten, sondern weil sie aus langer Gewohnheit gelernt hatten, sich den Stimmungen ihrer Dienstherren anzupassen – und es gab niemanden im Fungtai Hong Nr. 1, der nicht wusste, dass sich der Seth neuerdings in einer seltsam labilen Gemütsverfassung befand.
Das äußerte sich unter anderem darin, dass Bahram abends nicht mehr ausging. Jeden Tag, wenn die Sonne dem White Swan Lake entgegensank, fragte er Nil, welche Einladungen er angenommen habe, und nachdem Nil ihm die Liste vorgelesen hatte – und Listen waren es in der Tat, denn nicht selten folgte auf einen Empfang eine Abendgesellschaft und auf sie wiederum ein spätes Essen – , überlegte er einen Moment und lehnte dann schroff ab.
»Schick einen Laternenträger mit einer Nachricht hin und sag, ich bin … «
»Indisponiert?«
»Was immer du willst.«
Die Tage zogen sich hin, Vico ließ nichts von sich hören, und jedermann konnte sehen, dass das Nervenkostüm des Seths dünner wurde. Er wurde immer ungeduldiger und fahriger und ließ seine Laune an jedem aus, der gerade in der Nähe war – meist war das sein armer Munshi.
Die Nachricht von diesen Ausbrüchen verbreitete sich rasch im Achha Hong, und noch einige Zeit danach gingen alle auf Zehenspitzen, sprachen Englisch und benahmen sich so, als leisteten sie kollektive Buße.
Die beiden Geldprüfer waren stets die Ersten, die ihre Anteilnahme äußerten:
»… was tun? So ist Sethji nur, wenn … «
»… Qualen und Leiden gibt es im Leben immer … «
»… zu Gott beten und die Last tragen … «
Eines Morgens, als Bahram in seinem Frühstück herumstocherte, begann Nil ihm einen Auszug aus einem in Peking erlassenen kaiserlichen Edikt vorzulesen: »›Der Leiter der Behörde berichtet, dass die Gewohnheit des Rauchens weiter um sich greift, obgleich die Vizekönige und Gouverneure aller Provinzen ermächtigt sind, Razzien durchzuführen und Opium zu beschlagnahmen. Leider sind die Mandarine unachtsam und handhaben die Dinge ungeschickt. Sie beschlagnahmen Opium, wenn überhaupt, nur in verschwindend geringen Mengen, und ich befürchte, dass nicht alle integer sind … ‹«
»Was ist das?«, fragte Bahram barsch.
»Das ist ein Edikt, das der Sohn des Himmels in Peking erlassen hat – eine Übersetzung davon ist in der letzten Ausgabe des Register erschienen.«
Bahram schob seinen noch halb vollen Teller beiseite und erhob sich. »Weiter, Munshi, lesen Sie mir den Rest vor.«
»›Dementsprechend haben die Vizekönige und Gouverneure aller Provinzen strengstens darauf zu bestehen, dass ihre Leute sich an die Befehle halten. Des Weiteren haben sie ihre Zivil- und Militärbeamten anzuweisen, alles zu tun, um die Verräter aufzuspüren, jene Kaufleute, die in den Opiumhandel verwickelt sind. Auch sind alle Betreiber von Opiumstuben in den Städten zu verhaften und vor Gericht zu
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