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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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lehnte ich ab. Wie zur Strafe zeigte er auf ein Gelände in der Ferne und rief: »Seh die Seite, da abschneid Kopf! Abschneid Kopf!«
    Wovon redete er nur? Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er die öffentliche Hinrichtungsstätte meinte, die ebenfalls am Fluss liegt.
    Ich war wie erstarrt, muss ich gestehen. Zadig Bey hatte mir schon von diesem Ort erzählt: An Tagen, an denen Hinrichtungen stattfinden, machen sich viele Leute – auch Fanquis – dorthin auf, um sich das Spektakel anzusehen; einige Faktoreien veranstalten sogar Bootspartien dorthin! Ist das nicht im höchsten Grade abstoßend ? Aber natürlich schauen auch in Kalkutta Hunderte zu, wenn jemand aufgehängt wird, und ich weiß, dass es in London und vielen anderen Städten nicht anders ist – man kann also nicht so tun, als wäre man schockiert darüber, dass so etwas auch hier passiert. Ich für mein Teil kann solchen Dingen allerdings nichts abgewinnen und habe mir geschworen, mich davon fernzuhalten, aber da der Ort nun in Sicht war, starrte ich offen gestanden fasziniert hinüber.
    Es ist ein schmales Areal direkt am Fluss, sodass man von einem Boot aus alles genau verfolgen kann. Statt eines Galgens stehen dort andere Vorrichtungen und Apparate, eine Art Stuhl zum Beispiel, an den der Verurteilte gefesselt wird, bevor man ihm den Kopf abschlägt. Oder ein Gestell, das wie eine Art Kreuz aussieht, aber dazu dient, Menschen zu erdrosseln : Der Verurteilte wird mit ausgebreiteten Armen daran festgebunden, dann wird ein Strick um seinen Hals zugezogen.
    Trotz der Entfernung glaubte ich einen Leichnam an einem der Kreuze zu erkennen. Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe – aber jetzt bedaure ich keineswegs, es gesehen zu haben. Mir war sofort klar, dass ich die Szene in mein Rollbild würde aufnehmen müssen, und noch lange konnte ich an nichts anderes mehr denken als daran, wie ich sie malen würde.
    Ich war also ganz in Gedanken, als Ah-med verkündete, dass wir in Fa-Ti angekommen seien. Ich hatte ein Gelände mit offenen Gärten bis ans Wasser hinab erwartet, sah aber nichts dergleichen. Eine Vielzahl schlammiger Flüsschen und Kanäle durchzog das Gestade, ähnlich denen rings um Kalkutta, und die Ufer waren von Bäumen gesäumt, die man zum Teil auch in Bengalen sieht: Banyan-, Bodhi- und Kapokbäume. Wir bogen in einen der Wasserläufe ein und passierten von Zeit zu Zeit große festungsartige Anwesen, hinter deren Mauern nichts zu sehen war außer hin und wieder ein paar Ziegeldächer. Schließlich gelangten wir an einen Steg, an dem zahlreiche Boote unterschiedlicher Typen vertäut lagen: Sampans, Schuten, Ruderboote und sogar ein in leuchtenden Farben gestrichenes Vergnügungsboot.
    Dahinter befand sich ein Anwesen, ähnlich denen, die wir unterwegs gesehen hatten. Die hohe graue Mauer, die es umgab, wirkte so abweisend, dass man meinen konnte, man hätte ein Gefängnis oder ein Waffenarsenal vor sich. Der Ort entsprach so wenig meiner Vorstellung von einer Gärtnerei, dass ich zunächst glaubte, es liege ein Irrtum vor. Doch als Ah-med mich zum Eingang führte, zeigte sich, dass wir hier tatsächlich richtig waren, denn neben dem Tor hing ein Schild mit einer englischen Inschrift über chinesischen Schriftzeichen: Pearl River Nursery.
    Ah-med ging mit mir hinein und geleitete mich zu einer Bank, dann nahm er meine Karte und verschwand durch eine schmale Tür im Hintergrund. Um mich herum sah ich zahlreiche Gärtner und Pflanzenzüchter, die jedoch in ihre Arbeit vertieft waren und mich nicht weiter beachteten. So konnte ich mich in aller Ruhe umschauen.
    Die Gärtnerei befindet sich in einem großen rechteckigen Hof und ist ringsum von Mauern umschlossen, die von außen schmucklos und unauffällig, innen aber kunstvoll mit Fliesen und geometrischen Mustern verziert sind. Auch der Boden ist ganz mit Fliesen bedeckt, nicht das kleinste Stückchen Erde schaut zwischen ihnen hervor. Jede Pflanze in dem Garten – und es müssen Tausende sein – wächst in einem Topf; nirgendwo sonst wird man so viele so unterschiedlich gestaltete Pflanzgefäße auf einem Fleck finden: flache Untersetzer, Kugeln mit geriffeltem Rand, riesige fassartige, mit Pflaumenbäumen bepflanzte Urnen, Porzellantröge in so leuchtenden Farben wie die Blumen, die darin blühen.
    Töpfe, Töpfe, Töpfe, das ist alles, was man zunächst sieht. Haben sich die Augen aber an die Umgebung gewöhnt, merkt man, wie geschickt die Gefäße gruppiert sind, nämlich so, dass

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