Der rauchblaue Fluss (German Edition)
ein nullah, eine Mischung aus offenem Abwasserkanal und Gezeitenstrom. Er war einer der Hauptabwasserkanäle der Stadt, und bei Niedrigwasser, wenn er zu einem Rinnsal schrumpfte und sein Bett frei lag, konnte man sich kaum einen abscheulicheren Anblick vorstellen. Die Gezeiten ließen häufig Hunde- oder Ferkelkadaver in dem von Abfällen starrenden Schlick zurück, und da lagen sie dann, von Fliegen umschwirrt und einen Brechreiz erregenden Gestank verströmend, bis sie aufquollen und platzten.
Diese »Aussicht« hatte für Bahram nie etwas Anziehendes gehabt, und er konnte sich vorstellen, dass es vielen Bewohnern der Faktorei nicht anders erging. Es war offensichtlich, dass deren Reiz für Leute wie James Innes in dem direkten Zugang zum Fluss lag, den der nullah ihnen verschaffte; ihre Wohnungen hatten alle eigene Docks und Lagerräume, sodass ihnen die Waren direkt vor die Tür geliefert werden konnten und nicht erst über den Maidan transportiert werden mussten. Dass der Amtssitz des Oberzollinspektors von Kanton nahe dem Eingang der Creek-Faktorei lag, direkt an der Mündung des nullah, spielte keine Rolle: Um die Hafenzollbeamten pflegte man sich schon lange vor Eintreffen einer Lieferung zu kümmern.
Bahram wusste, dass der Creek-Hong regelmäßig solche Lieferungen erhielt; das Risiko, dass etwas schiefging, war also gering. Dennoch konnte er nicht aufhören, sich über alles Mögliche Sorgen zu machen. Er holte einen Kalender hervor, den Shirinbai ihm geschenkt hatte, und schaute nach, ob Tag und Uhrzeit günstig waren – und seine Beklemmung wuchs, als er sah, dass dies nicht der Fall war. Er betrachtete die feinen Kleider, die auf seinem Bett für ihn zurechtgelegt worden waren. Sie waren zu vornehm für sein Vorhaben, fand er; mit seinem Turban und dem choga würde er schon genug auffallen – sich unnötig herauszuputzen und damit noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen war das Letzte, was er wollte.
Nach einigem Überlegen wählte er einen unscheinbaren alten Kaftan, den er Jahre nicht mehr getragen hatte. Während sein Turban gewickelt wurde, kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht ratsam war, das Ende zu lockern, damit er es notfalls über sein Gesicht ziehen konnte – eine absurde kleine Vorsichtsmaßnahme vielleicht, aber in seiner augenblicklichen Stimmung wollte er nichts versäumen, was ihm ein wenig innere Ruhe verschaffen konnte. Er brachte es jedoch nicht über sich, den Khidmatgar darum zu bitten – jeder seiner Angestellten wusste, dass er das Turbanende stets festgesteckt trug, und wenn es sich herumsprach, würde der ganze Hong darüber reden. Schließlich beschloss er, es selbst zu tun, und forderte den Khidmatgar auf, den Raum zu verlassen.
Der Mann fühlte sich natürlich gemaßregelt, rang die Hände und jammerte: »Kya kiya Huzur – was habe ich falsch gemacht?«
Da geriet Bahram in Harnisch und rief: »Gadhera! Glaubst du, ich kann gar nichts selbst? Verschwinde!«
Der Mann wich wimmernd zurück, und Bahram verspürte einen schmerzhaften Stich der Reue. Der Khidmatgar war schon sehr lange bei ihm; zwanzig Jahre mochten es sein. Er war als Junge zu ihm gekommen, und jetzt zeigten sich in seinem Schnurrbart bereits graue Strähnen. Spontan griff Bahram in die Brusttasche seines angarkha und nahm die erste Münze heraus, die seine Finger berührten. Es war ein ganzer Dollar, aber gleichviel – er hielt ihn dem Mann hin.
»Schon gut«, sagte er. »Hier, nimm. Du kannst jetzt gehen, den Rest mache ich selbst.«
Die Augen des Mannes weiteten sich und füllten sich mit Tränen. Er verneigte sich tief, ergriff Bahrams Hand und küsste sie. »Huzur«, sagte er, »Sie sind unser Vater und Ernährer, ohne Sie, Sethji … «
»Bas!«, sagte Bahram. »Genug jetzt, du kannst gehen. Chal!«
Nachdem sich die Tür hinter dem Khidmatgar geschlossen hatte, drehte sich Bahram zum Spiegel um und lockerte das Ende des straff gewickelten Turbans. Er wollte es gerade wieder feststecken, da sah er, dass seine Hand zitterte. Er hielt inne und tat einen tiefen Atemzug. Es erschreckte ihn, wie angespannt seine Nerven waren, wie brüchig seine Gemütsverfassung – aber wer hätte auch gedacht, dass jemals ein Tag kommen würde, an dem er, Seth Bahramji Naurozji Modi, sich aus dem Ende seines Turbans einen Schleier würde fabrizieren müssen?
Bevor er sein Schlafzimmer verließ, beschloss er, die Lederbörse in die Falten seiner Schärpe zu stecken. Sie drückte schwer auf seine Taille,
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