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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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der Eindruck einer Landschaft entsteht, mit gewundenen Pfaden, Grasflächen, bewaldeten Hügeln und dichten Wäldern. Und man stellt fest, dass diese natürlichen Elemente unbegrenzt veränderbar sind: Hier entdeckt man einen frisch angelegten Hain, dort eine Wiese, die vielleicht kurz zuvor noch ein Obstgarten war. Daraus wird ersichtlich, dass der Hof entsprechend dem Wechsel der Jahreszeiten oder vielleicht sogar der jeweiligen Stimmung seiner Hüter umgestaltet werden kann.
    Eine wunderbar kunstreiche Art, eine Gärtnerei anzulegen!
    Als ich umherwanderte und alles in mich aufnahm, kam ich an die Tür, durch die Ah-med vor einer Weile verschwunden war. Jetzt erst bemerkte ich, dass sich ein winziges, raffiniert hinter einer kleinen Klappe verborgenes Guckloch darin befand. Ich schaute durch und erblickte ein binsenbestandenes Sumpfgelände, durch das sich ein Pfad zu einem weiteren ummauerten Areal hinschlängelte, das weit größer war als die Gärtnerei; wie eine Zitadelle sah es aus.
    Während ich mit dem Auge an dem Guckloch dort stand, schwang plötzlich das Tor dieser Festung auf. Zehn oder elf Männer kamen heraus, und ich konnte einen Blick ins Innere erhaschen. Viel sah ich nicht, aber es schien ein prächtiger Garten mit Pavillons und Wasserläufen zu sein. Dann schloss sich das Tor wieder, und die Männer setzten sich in Richtung der Gärtnerei in Bewegung. Einer von ihnen ging ein kleines Stück voraus, die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt, und der ehrerbietige Abstand, den die anderen wahrten, verriet, dass es sich um den »Boss-Mann« handelte, Lynchong.
    Er hat ein faszinierendes Gesicht, muss ich sagen, und ich versäumte nicht, es genau zu studieren.
    Es mag Dir seltsam erscheinen, liebe Paggli, wenn ich das von einem Chinesen sage, aber ich schwöre Dir, es ist wahr: Lynchong sieht aus wie einer jener Renaissancekardinäle, die sich so oft von den italienischen Meistern haben porträtieren lassen! Die Ähnlichkeit ist offensichtlich, was das Äußere angeht – der Hut, das Gewand, der Schmuck – , aber sie erstreckt sich auch auf die Hakennase, die fleischigen Wangen und den durchdringend scharfen Blick unter den schweren Lidern. Mit anderen Worten: ein Gesicht voller Schlauheit, Bestechlichkeit, Grausamkeit und Begierde.
    Ich trat gerade rechtzeitig von der Tür zurück, um nicht entdeckt zu werden. Als sie aufging, war ich bereits so weit von ihr entfernt, dass ich so tun konnte, als hätte ich mich die ganze Zeit zwischen den Pflanzen umgesehen.
    Lynchong betrat die Gärtnerei allein, nur Ah-med begleitete ihn, die anderen – Diener, Handlanger, lathiyals oder was immer sie sein mochten – mussten draußen warten. Er taxierte mich eine ganze Weile mit eindringlichem Blick, doch als ich gerade chin-chin sagen wollte, richtete er von sich aus das Wort an mich – und ich versichere Dir, Paggli, hätte sich die Erde unter meinen Füßen in Wasser verwandelt, meine Überraschung wäre nicht größer gewesen. Denn er sagte: »Wie geht es Ihnen, Mr. Chinnery?«, und seine Aussprache war so, wie man sie von jemandem erwarten würde, der jahrelang die Straßen Londons durchstreift hat!
    Ich brachte noch genug Geistesgegenwart auf, um zu antworten: »Sehr gut, Sir. Und Ihnen?«
    »Ach, Sie wissen ja, wie das ist«, sagte er. »Es geht auf und ab, so wie die Rahnock.«
    Ah-med hatte unterdessen zwei Stühle herbeigeschafft. Lynchong nahm auf einem davon Platz und wies mir den anderen an. Ich hatte mich noch kaum von meiner Überraschung erholt, da ergriff er von Neuem das Wort.
    Er freue sich, mich kennenzulernen, sagte er, sein Name sei Chan Liang, aber ich könne ihn Lynchong nennen oder Mr. Chan oder wie immer es mir beliebe, er nehme es da nicht so genau. Dann kam er wie ein viel beschäftigter Geschäftsmann ohne weitere Umschweife zur Sache: »Sie möchten mir etwas zeigen, wie ich höre.«
    »So ist es.« Ich reichte ihm das Kamelienbild.
    Beim Anblick des Bildes trat ein Flackern in seine schläfrigen Augen, und ein seltsamer Ausdruck glitt über sein Gesicht. Mit einem mindestens fünf Zentimeter langen Fingernagel tippte er auf das Papier.
    »Woher haben Sie das?«, fragte er, und ich erwiderte, es gehöre Freunden von mir, die mich gebeten hätten, Nachforschungen für sie anzustellen. »Warum?«, fragte Lynchong, auf dieselbe schroffe Art. Es behagte mir nicht übermäßig, in diesem Ton angesprochen zu werden, und so antwortete ich, meine Freunde wünschten ein Exemplar der

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