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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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    Nil blickte von seinen Notizen auf und sah, dass Bahram vom Frühstückstisch aufgestanden war und etwas für ihn sehr Ungewöhnliches getan hatte: Er hatte sich an seinen Sekretär gesetzt.
    »Warum hören Sie auf?«, fragte Bahram. »Lesen Sie weiter – was sagt der Kaiser sonst noch?«
    »›Die Vizekönige und Gouverneure aller Provinzen haben alles daranzusetzen, das Übel mit der Wurzel auszurotten; nicht einer einzigen Person darf es gestattet werden, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen. Sollten sie es wagen, über die Missstände hinwegzusehen, sie zu vertuschen und Verhaftungen zu unterlassen, oder sich ähnlicher Übel schuldig machen, werden Sie kraft eines neuen Gesetzes bestraft; ferner werden ihre Söhne und Enkel nicht zu den Prüfungen zugelassen. Beweisen die Bezirksmandarine bei der Behandlung dieser Angelegenheit jedoch Klugheit und Geschick, werden sie gemäß dem neuen Gesetz befördert. Dies möge in allen Provinzen öffentlich bekannt gegeben und allen Menschen zur Kenntnis gebracht werden. Befolgt es! ‹«
    An dieser Stelle wurde Nil von einem seltsamen Geräusch unterbrochen, ähnlich einem Zähneknirschen. Verwundert sah er auf: Das Geräusch kam nicht aus Bahrams Mund, sondern von seinen Händen: Er hatte seinen gemeißelten Tuschestein vor sich hingelegt und rieb die lange vernachlässigte Stangentusche heftig darauf hin und her – ob um seiner Erregung Luft zu machen oder um sich zu beruhigen, hätte Nil nicht zu sagen vermocht. Immer ungestümer bearbeitete der Seth den Stein, und im nächsten Augenblick rutschte dieser vom Tisch, und ein schwarzer Tuschestrahl schoss hoch, tränkte Bahrams makellosen choga und spritzte über seine Papiere.
    Bahram sprang auf und sah entsetzt an sich hinab. »Verdammt! Wer hat diesen Chinesen gesagt, sie sollen Tusche wie masala machen? Diese Spinner!« Er richtete ein wütendes, verstörtes Augenpaar auf Nil und zeigte auf den Tuschestein. »Schaffen Sie den weg! Ich will ihn nicht mehr sehen!«
    »Ja, Sethji.«
    Als Nil zur Tür ging, flog sie von selbst auf: Ein Tagelöhner stand draußen, in der Hand ein versiegeltes Schreiben.
    Diese dringende Nachricht sei eben abgegeben worden, sagte der Mann. Der Bote warte unten auf Antwort.
    Bahrams Reaktion verriet, dass er die Nachricht seit Langem erwartet hatte. Jeder Gedanke an das Missgeschick mit der Tusche war augenblicklich aus seinem Kopf getilgt, und seine Stimme klang frisch und geschäftsmäßig: »Sie müssen ins Kontor hinunter, Munshi. Sagen Sie den Geldprüfern, sie möchten freundlicherweise eine Börse mit neunzig Tael vorbereiten; sie sollen ›number-one first-chop‹-Münzen nehmen. Und keine darf meinen Stempel tragen, sagen Sie ihnen das.«
    »Ja, Sethji.« Unter Verbeugungen verließ Nil den daftar und eilte die Treppe hinunter.
    Wie jedes andere Kontor in Fanqui-Town lag auch das des Seths im Erdgeschoss. Es war ein stickiger kleiner Raum mit einer schweren Tür und einem einzigen, mit dicken Stahlstreben vergitterten Fenster. Hier hatten nur die beiden Geldprüfer der Firma Zutritt, niemand anders durfte hinein. Stundenlang saßen sie hier und prüften Münzen auf ihre Echtheit, und das Klimpern der Geldstücke, die durch ihre Hände strömten, verband sich zu einer nicht endenden metallischen Melodie.
    Die gebräuchlichste Münze in Fanqui-Town war das auch weltweit verbreitetste Zahlungsmittel: der spanische Silberdollar, auch »Achterstück« genannt, weil er einem Wert von acht Real entsprach. Er hatte einen Feinsilbergehalt von weniger als einer Unze, aufgeprägt waren Köpfe und Wappen der letzten spanischen Herrscher. Doch von den Achterstücken, die in Kanton im Umlauf waren, zeigten nur noch sehr wenige ihre ursprüngliche Prägung. In China wurde jede Münze, während sie von Hand zu Hand ging, mit dem Stempel ihres jeweiligen Besitzers versehen. Man sah darin eine Sicherheit für den Käufer wie für den Verkäufer, denn wer eine schlechte Münze beanstandete, hatte die Garantie, dass sie ihm ersetzt wurde, sofern sie mit dem Stempel ihres Vorbesitzers gekennzeichnet war.
    Sobald der Platz auf der Münze knapp wurde, behalf man sich damit, sie mit einem Hammer flacher zu schlagen. Irgendwann wurden die gesprungenen, abgenutzten Münzen dann in kleine Stücke zertrümmert, die in Beuteln aufbewahrt und in die Waagschale gelegt wurden, wenn eine Transaktion eine bestimmte Silbermenge erforderte. Je älter die Münzen waren, desto schwerer wurde man

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