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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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war jedoch unter dem wollenen choga gut verborgen. Er wollte gerade die Tür öffnen, da kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht gut daran tat, auch einen Spazierstock mitzunehmen, und er bewaffnete sich mit einem robusten Malakkastock mit Porzellanknauf. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es fast elf war, und er verließ schnell das Zimmer. Draußen traf er auf den Munshi, der oben an der Treppe auf ihn wartete.
    »Haben Sie heute Vormittag noch etwas für mich zu tun, Sethji?«
    »Nein, Munshi.« Bahram blieb stehen und schenkte ihm ein Lächeln. »Sie haben in letzter Zeit sehr viel gearbeitet. Nehmen Sie sich doch den Vormittag frei.«
    »Ja, Sethji.«
    Unten im Flur stieß Bahram auf mehrere seiner Angestellten, die dort flüsternd durcheinanderliefen.
    »… sollen wir mitkommen, Huzur?«
    »… brauchen Sie Hilfe, Sethji?«
    Wenn er jetzt nicht hart blieb, würden sie ihm in jedem Fall folgen, das wusste Bahram, und so drohte er ihnen mit dem Finger. »Nein. Keiner kommt mit, und ich möchte auch nicht, dass mir jemand nachgeht.«
    Sie schlugen die Augen nieder und zogen ab, und Bahram ging zur Tür. Draußen an der frischen Luft beruhigte ihn das übliche geschäftige Treiben auf dem Platz ein wenig. Die Barbiere waren unter ihren transportablen Sonnensegeln emsig dabei, Stirnen zu rasieren und Zöpfe zu flechten, von den Karren der Kastanienverkäufer stiegen duftende Rauchwolken auf, und eine Truppe reisender Akrobaten führte vor einem Publikum großäugig staunender Mischlingsjungen ihre Künste vor. Bahram schaute nach Jackass Point hinüber und sah zu seiner Erleichterung, dass dort weniger Betrieb herrschte als sonst. Das kam öfter vor, wenn länger kein Schiff angelegt hatte, und so dachte er sich nichts weiter dabei und setzte sich, seinen Stock schwingend, mit schnellen Schritten in Bewegung.
    Zwischen dem Maidan und dem Flussarm lagen der britische und der niederländische Hong. Beide Faktoreien hatten sich das Gelände vor ihren Gebäuden einverleibt und dort private Gärten angelegt. Der gesamte Fußgängerverkehr floss daher durch ein schmales Sträßchen; die Achhas nannten diese wimmelnde Gasse »Chor Gali – Diebsweg«.
    Auch Bahram hatte mit den Langfingern der Chor Gali Bekanntschaft gemacht. Als er vor vielen Jahren einmal durch die Gasse gegangen war, waren ihm fünfzig Dollar gestohlen worden; die Börse war, während er sich durch die Menge kämpfte, aus dem Futter seines choga herausgeschnitten worden, so geschickt, dass er es erst im Zollamt bemerkt hatte. Als er jetzt die Gasse passierte, hielt er zum Schutz vor der Gaunerzunft vorsichtshalber die Hand darauf.
    Am Ende der Gasse angelangt, warf er einen raschen Blick auf das Zollamt, einen bescheidenen Backsteinbau direkt an der Mündung des nullah mit einem Hof aus gestampfter Erde. Heute war es ruhig dort, nur ein paar Kulis und Straßenhändler lungerten herum. Die Sicht auf den Perlfluss war von dort, wo Bahram stand, durch das Gebäude versperrt. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, ans Ufer zu gehen, um sich davon zu überzeugen, dass vom Fluss her keine Gefahr drohte, doch nach näherer Überlegung kam er zu dem Schluss, dass er besser so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregte. Seinen Stock schwingend, schritt er geradewegs auf den Eingang der nur wenige Meter entfernten Creek-Faktorei zu.
    Mehrere Jahre waren vergangen, seit Bahram sie zum letzten Mal betreten hatte, aber alles schien unverändert: Ein langer dunkler Flur lag vor ihm, in dem es nach Schimmel und Urin roch. Innes hatte seine Wohnung in Haus Nr. 2, der Eingang lag rechts. Bahram klopfte mit dem Knauf seines Spazierstocks an die Tür. Nichts regte sich, und er klopfte noch einmal. Kurz darauf ging die Tür auf, und ein Diener führte ihn in Innes’ Wohnung.
    Er betrat einen lang gestreckten, schmalen Raum, wie er vielen kleinen Händlern in Fanqui-Town als Unterkunft diente. Hier jedoch herrschte ein wildes Durcheinander: Auf einem kleinen Esstisch stapelten sich Teller mit angetrockneten Essensresten, auf Stühlen und Sofas lagen Berge schmutziger Bettwäsche. Bahram verzog angewidert das Gesicht und wandte sich ab.
    Wie viele Wohnungen in der Creek-Faktorei hatte auch diese einen kleinen Balkon, der auf den nullah hinausging. Der Gestank, der von dort aufstieg, erschien Bahram nun weniger schlimm als der Geruch nach verdorbenem Essen und ungewaschener Wäsche in dem Raum. Er wollte schon hinaustreten, als Innes die steile Treppe

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