Der rauchblaue Fluss (German Edition)
der Gedärme behindern konnte. Für diese Achhas war Asha-didi eine Gestalt, die in ihnen nicht nur Dankbarkeit, sondern auch tiefe Verehrung weckte. Nil aber besuchte die Garküche aus einem anderen Grund: Für ihn waren Asha-didis Gerichte noch mit einer zusätzlichen Annehmlichkeit gewürzt – dem Vergnügen, Bengali sprechen zu können.
Dass Asha-didi so fließend Hindustani und Bengali sprach, überraschte die Achhas oft, denn nichts an ihr deutete auf eine Verbindung zu deren Heimat hin. Schlank und aufrecht trug sie die einfache Kleidung der kantonesischen Bootsfrauen: eine blaue Tunika, wadenlange Hosen, einen spitzen Sonnenhut und gegen die winterliche Kälte eine wattierte Jacke. Wenn sie, einen brennenden Räucherstab neben sich, auf ihrem Schemel saß und ihre Finger über einen Abakus tanzten, fügte sie sich so nahtlos in Kantons Hafenszenerie ein, dass die Achhas oft völlig verblüfft darüber waren, in ihrer Muttersprache begrüßt zu werden, auf Hindustani etwa oder auf Bengali; beides beherrschte Asha-didi fließend. Viele wollten von ihr wissen, wie sie das mache, so, als handle es sich um ein Zauberkunststück. »Das hat nichts mit Magie zu tun«, antwortete sie dann lachend. Ich bin in Kalkutta geboren und aufgewachsen; meine Familie lebt heute noch dort … «
Asha-didis Vater war kurz nach ihrer Geburt nach Bengalen gezogen, als einer der ersten Chinesen, die sich in Kalkutta ansiedelten, und einer der wenigen Kantonesen innerhalb einer großen Mehrheit von Hakka. Anfangs verdingte er sich als Hafenarbeiter in den Docks von Kidderpur, später jedoch, nachdem seine Familie nachgezogen war, verlegte er sich auf den Handel mit Nahrungsmitteln und gründete einen kleinen Betrieb, der die chinesischen Besatzungsmitglieder der Schiffe, die den Hafen anliefen, mit Proviant versorgte: Nudeln, Soßen, eingelegtes Gemüse und anderes, was sie für ihr Wohlbefinden benötigten.
Die Speisen wurden zu Hause zubereitet, und alle Familienmitglieder halfen dabei mit, auch die Kinder, deren ältestes Asha-didi war. Eines Tages – sie war kein Kind mehr, aber auch noch keine Frau – geschah es, dass sie einem jungen Matrosen namens Ah Bao die Tür öffnete, der mit dem Auftrag geschickt worden war, die Vorräte seines Schiffes aufzustocken, das am folgenden Tag auslaufen sollte. Es herrschte viel Betrieb an diesem Morgen, und Asha-didi war mit Mehl bestäubt und mit nassen Nudeln behängt. Ah Bao starrte sie offenen Mundes an. Er murmelte etwas auf Kantonesisch, und sie antwortete in derselben Sprache: Er solle sagen, was er wolle, aber dalli! Diese Worte und mehr noch Asha-didis Anblick hätten ihn veranlassen können, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden – doch am nächsten Tag war er wieder da. Er habe abgeheuert, erklärte er, weil er der Familie seine Dienste anbieten wolle.
Asha-didis Eltern wussten natürlich, was er im Sinn hatte, und sie waren nicht allzu erfreut darüber, teils weil sie aus seiner Art zu sprechen schlossen, dass er von seiner Herkunft her Schiffer war, teils weil sie seit Langem einen anderen, standesgemäßeren Bräutigam für ihre älteste Tochter im Auge hatten. Dennoch entschloss sich Asha-didis Vater, ihn einzustellen, nicht etwa aus Nächstenliebe, sondern weil er ein cleverer Kaufmann war, der sich etwas auf seinen Geschäftssinn zugutehielt. Der junge Matrose, so rechnete er sich aus, hatte möglicherweise etwas Nützliches zu bieten, etwas für einen Schiffslieferanten Unerlässliches: die Fähigkeit, mit einem Boot auf den Fluss hinauszufahren und auf den einlaufenden Schiffen um Kundschaft zu werben. Bisher hatte Asha-didis Vater das selbst getan, aber er war kein Bootsführer, er musste für seinen Sampan jedes Mal Hugli-Schiffer anheuern, die ihn regelmäßig betrogen. Ob dieser junge Bursche das Boot über den wimmelnden Fluss zu steuern wusste? Die Antwort lag keineswegs auf der Hand, denn die Sampans auf dem Hugli waren ganz anders gebaut als das Boot, von dem sie ihren Namen herleiteten: dem »Drei-Bord«-saam-pan des Perlflusses. Der auf dem Hugli gebräuchliche Typ mit hochgezogenen Vorsteven und Heck hatte eher die Form eines Kanus und wurde ganz anders geführt.
Doch Ah Bao war für das Wasser wie geschaffen, und es gab kaum ein Boot, dem er nicht gewachsen war. Der Sampan stellte weiter keine Herausforderung für ihn dar, und er kam mühelos mit ihm zurecht. Und das Rudern war nicht die einzige nützliche Fertigkeit, die er auf dem Hugli erworben
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