Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Mandarin in seinem Zelt herabregneten. Die Soldaten rannten los und nahmen den Gefangenen mit, und auch der Mandarin flüchtete unter dem Schutz ihrer gezückten Waffen.
In ihrem Siegestaumel brachen die Seeleute in Gelächter aus. »Donnerwetter, Bill, so ’nen Spaß hat man nicht jeden Tag!«
Nachdem sie das Hinrichtungskommando vertrieben hatten, stürzten sich die Menschen auf alles, was die Soldaten zurückgelassen hatten – das Holzkreuz, das Zelt, den Tisch, die Stühle – und schlugen es kurz und klein. Dann warfen sie die Trümmer auf einen Haufen, gossen Schnaps darüber und steckten ihn in Brand. Als die Flammen aufloderten, zog sich ein Matrose das Tuch vom Kopf und warf es ins Feuer, ein anderer riss sich, von seinen Kameraden angestachelt, die Hose vom Leib und warf sie ebenfalls hinein. Ein rhythmisches Klatschen hob an, und die halbnackten Matrosen fingen an zu tanzen. Der Triumph darüber, die Hinrichtung vereitelt zu haben, war nicht weniger berauschend als der Alkohol, die Flammen und das Gebrüll ringsum. Nil ließ sich davon mitreißen und begriff nicht, weshalb seine neuen Laskarenfreunde plötzlich verstummt waren. Umso überraschter war er, als einer von ihnen flüsterte: »Palao bhai, jaldi – weg hier! Schnell!«
»Wieso?«
»Sieh mal, da drüben … ein Haufen Chinesen … die kommen auf uns zu … «
Im nächsten Moment prasselten Steine auf sie herab. Einer traf Nil an der Schulter, und er ging zu Boden. Als er den Kopf aus dem Staub hob, sah er, dass Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Kantonesen auf den Maidan strömten, die Zäune um die Gärten der Faktoreien zerschlugen und sich mit herausgerissenen Pfosten und Zaunlatten bewaffneten. Sechs oder sieben Männer liefen mit hoch erhobenen Knüppeln in seine Richtung. Er rappelte sich auf und rannte auf den Fungtai Hong zu. Er hörte schon das Stampfen hinter sich und war zum ersten Mal froh, dass die Enklave so klein war; bis zum Eingang des Hongs waren es nur wenige Schritte.
Bedienstete des Hongs standen im Begriff, das Tor zu schließen, aber Nil war so außer Atem, dass er ihnen nicht zurufen konnte, sie möchten ihn hereinlassen. Einer von ihnen erkannte ihn jedoch, er hielt ihm eine der Türen auf und rief winkend und gestikulierend: »Bhago, Munshiji, bhago – laufen Sie! Laufen Sie!«
Er war schon fast drinnen, da schlug etwas heftig gegen seine Schläfe. Er taumelte vollends hinein und stürzte zu Boden.
Als er wieder zu sich kam, lag er in seiner Kammer auf dem Bett. Sein Kopf dröhnte, vom Alkohol ebenso wie von dem Schlag. Er öffnete die Augen, und sein Blick fiel auf Vico, der mit einer Kerze in der Hand auf ihn herabsah.
»Munshi? Wie fühlen Sie sich?«
»Furchtbar.«
Sein Kopf hämmerte, als er sich aufsetzen wollte, und er fiel auf das Kissen zurück.
»Wie spät ist es?«
»Sieben Uhr vorbei. Sie waren mittendrin, Munshiji.«
»Wo mittendrin?«
»In dem Tumult. Die hätten hier beinahe das Tor eingedrückt. Mit Rammböcken sind sie auf die Faktoreien los.«
»Hat es Tote gegeben?«
»Nein, ich glaube nicht. Aber es hätte passieren können. Ein paar von den Sahibs haben sogar ihre Pistolen geholt. Können Sie sich vorstellen, was passiert wäre, wenn sie auf die Leute geschossen hätten? Zum Glück war die Polizei rechtzeitig da. Die haben der Sache dann schnell ein Ende gemacht – hatten den Maidan nach wenigen Minuten geräumt. Und dann, als sich alles gerade wieder beruhigt hatte – was meinen Sie, wer da auf der Bildfläche erschienen ist?«
»Wer?«
»Captain Charles Elliott, der britische Bevollmächtigte. Er hat irgendwie von der Sache erfahren und ist mit einem Trupp Sepoys und Laskaren schnell aus Macao hergekommen. Wäre der Mob noch auf dem Maidan gewesen, hätten seine Leute wahrscheinlich das Feuer eröffnet. Wer weiß, was dann passiert wäre? Aber zum Glück war alles schon vorbei.«
»Und was hat Captain Elliott gemacht?«
»Er hat eine Sitzung einberufen und eine Rede gehalten, was sonst? Die Lage gerate außer Kontrolle, hat er gesagt, und er werde persönlich dafür sorgen, dass keine britischen Boote mehr Opium nach Kanton bringen.«
»So?«
Nil setzte sich vorsichtig auf, fasste sich an den Kopf und stellte fest, dass er verbunden war.
»Und Sethji? Ist bei ihm alles in Ordnung?«
»Ja, ihm geht’s gut. Er isst im Klub mit Mr. Dent und Mr. Slade zu Abend. Jetzt ist alles wieder ruhig. Ohne die herausgerissenen Zäune und die Glasscherben auf dem Maidan würde
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