Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
Vom Netzwerk:
– eine Art Holzkreuz!
    Das Herz schlägt mir bis zum Hals, liebe Paggli … Ich kann nicht weiterschreiben …
    Als Nil aus dem dänischen Hong trat, wo er einen Brief abgegeben hatte, ließen ihn ungewohnte Geräusche innehalten: gleichmäßige Schritte, begleitet von Getrommel, Gongschlägen und explodierenden Feuerwerkskörpern. Er blieb neben dem Viehpferch der dänischen Faktorei stehen und wartete ab. Gleich darauf brach eine Kolonne Soldaten aus der Old China Street hervor. Sie trabten auf den hohen Mast zu, an dem die amerikanische Flagge wehte, und ihr rhythmisches Stampfen wirbelte eine Staubwolke auf.
    Die Flagge war nicht vor der amerikanischen, sondern vor der schwedischen Faktorei gehisst, denn in diesem Gebäude befand sich die Residenz des amerikanischen Konsuls. Zwischen dem dänischen Hong ganz am Ende der Enklave und dem schwedischen in der Mitte lagen sechs weitere Faktoreien: der spanische, der französische, der Mingqua, der amerikanische, der Paoushun und der kaiserliche Hong. Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Lärm der Trommeln, Gongs und Raketen ins Innere dieser Faktoreien drang und die Händler, Agenten, Geldprüfer und Kaufleute herausströmten.
    Es war zehn Uhr morgens, die Tageszeit, zu der in Fanqui-Town der größte Betrieb herrschte. Ein paar Stunden zuvor hatten die ersten Fähren das übliche Kontingent Seeleute auf Landurlaub aus Whampoa nach Kanton gebracht. In der Enklave angekommen, hatten sich die Laskaren und die englischen Matrosen wie üblich geradewegs in die Kaschemmen der Hog Lane begeben, um sich so schnell wie möglich übers Ohr hauen zu lassen. Als sich die Nachricht vom Aufmarsch der Soldaten verbreitete, kamen sie auf den Maidan gelaufen, um zu sehen, was dort vor sich ging. Nil stellte fest, dass viele von ihnen sturzbetrunken waren; einige torkelten, andere stützten sich schwer auf die Schultern ihrer Kameraden.
    Da die Menge immer dichter wurde, brauchte Nil eine Weile, um sich zu dem Flaggenmast durchzukämpfen, wo inzwischen ein Zelt aufgeschlagen worden war. Flankiert von seinen Helfern, saß darin ein zeremoniell gewandeter Mandarin. Ein Stück entfernt nagelte ein Trupp Soldaten eine seltsame hölzerne Vorrichtung zusammen.
    Jetzt ertönten wieder Gongs und Muschelhörner, und die Menge teilte sich, um einen weiteren Zug Soldaten durchzulassen. Sie führten einen an zwei langen Schulterstangen befestigten Stuhl mit sich. Ein Mann war daran festgebunden, barhäuptig und in offener Tunika, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er wand sich verzweifelt und warf den Kopf hin und her.
    Die Menge drängte sich um ihn, und Nil schnappte Bruchstücke eines Gesprächs im Dialekt Ostbengalens auf.
    »Haramzadatake gola-tipa mairra dibo naki – wollen die den Dreckskerl erdrosseln?«
    »Ta noyto ki? Dekchis ni, bokachodata kemni kaippa uthase – was denn sonst? Seht nur, wie der Schweinehund zittert … «
    Nil fand sich Schulter an Schulter mit zwei Laskaren aus Khulna, einem Tindal und einem Classy. Der Tindal hatte eine Flasche in der Hand. Hocherfreut, auf einen bengalischen Landsmann gestoßen zu sein, schlang er Nil den Arm um den Hals und hielt ihm die Flasche an den Mund. »Da, trink ein Schlückchen, das wird dir nicht schaden … «
    Nil versuchte die Flasche wegzuschieben, worauf die beiden Laskaren nur noch zudringlicher wurden. Der Schnaps rann zwischen seine Lippen und zog eine glühende Spur durch seinen Körper. Am Geschmack erkannte er, dass es eine spezielle, auf schnelle, starke Wirkung angelegte Art von Alkohol war. Er öffnete den Mund, streckte seine verbrannte Zunge heraus und fächelte sie mit der Hand. Die beiden Laskaren fanden das urkomisch und hielten ihm erneut die Flasche an den Mund. Diesmal fiel Nils Widerstand sehr viel kraftloser aus. Die Hitze des Getränks war ihm vom Magen in den Kopf gestiegen, und nun durchflutete auch ihn ein Gefühl warmer Kameradschaft. Es waren gute Kerle, diese beiden mit ihrer schlichten, fröhlichen Art zu reden, und es tat wohl, mit so freundlichen Leuten Bengali zu sprechen. Er legte die Arme um ihre Schultern, und zu dritt standen sie leicht schwankend da und beobachteten die Vorbereitungen für die Hinrichtung.
    Der Schnaps hatte den Laskaren die Zunge gelöst, und bald wusste Nil, dass sie auf der Orwell Dienst taten, einem Schiff der Ostindien-Kompanie, das gerade in Whampoa vor Anker lag. Auf ihrer letzten Fahrt waren sie, von schlechtem Wetter verfolgt, bei erstbester Gelegenheit nach

Weitere Kostenlose Bücher