Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Schauspiel erinnerte Bahram an eine Nacht vor vielen Jahren, als er und Chi-mei Seite an Seite in einem Sampan gelegen hatten, der in einer Lichtkugel zu schweben schien. Bahram hatte Silbermünzen aus seiner Tasche geholt und in Chi-meis Hände geschüttet, und sie hatte gelacht und gesagt: »Und Allow? Mister Barry muss geb cumshaw auch Allow.«
Bahram ertrug den Anblick des Sees nicht länger. Er schaute auf seinen Teller hinab und sah, dass das Fett auf den unberührten Entenbruststreifen bereits zu erstarren begann. Er schob seinen Stuhl zurück. »Meine Herren«, sagte er, »entschuldigen Sie bitte, aber ich bin heute Abend nicht ganz auf der Höhe. Ich denke, ich werde mich zurückziehen.«
»Was?«, sagte Slade. »Kein Pudding? Kein Portwein?«
Bahram lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Aber ich bitte Sie. Schlafen Sie gut, dann kommt der Appetit schon wieder.«
»Ja. Gute Nacht, Lancelot. John.«
»Gute Nacht.«
Bahram ging rasch die Treppe hinunter. Als er ins Freie trat, blieb er aus alter Gewohnheit stehen und sah sich nach Apu um, seinem Laternenträger. Normalerweise hätte Vico oder jemand anders dafür gesorgt, dass Apu ihn abholte, aber heute war kein normaler Tag, und so überraschte es ihn nicht, dass keine Laternenträger im Hof warteten.
Bahram setzte sich mit raschen Schritten in Bewegung, und nachdem er den dänischen Hong hinter sich gelassen hatte, fand er sich allein auf dem Maidan. Vom Fluss her wälzte sich dichter Nebel heran, der bereits das Ufer und einen großen Teil des Platzes verhüllte; nur in den Fenstern der Faktoreien schimmerte noch Licht.
Am anderen Ufer des White Swan Lake schossen noch immer Feuerwerksraketen in den Himmel. Wenn sie explodierten, verbreiteten sie ein diffuses Glühen, das zwischen den Nebelschleiern zu schweben schien. Einmal erblickte Bahram in ihrem Schein gute zehn Schritte vor sich eine in einen Umhang gehüllte Gestalt. Er sah sie nur von hinten, aber ihr Gang war unverkennbar.
»Allow?«
Es kam keine Antwort, und der Nebel war dichter geworden. Doch dann explodierte eine weitere Rakete, und Bahram sah die Gestalt von Neuem. »Allow!«, rief er. »Chin-chin! Warum Allow nix sprech Mister Barry?«
Wieder kam keine Antwort.
Bahram beschleunigte seinen Schritt. Plötzlich hörte er Vicos Stimme durch den Nebel: »Patrão! Patrão! Wo sind Sie?«
Er drehte sich um und sah eine Laterne im Dunkel auf und ab schaukeln.
»Hier, Vico!«
»Bleiben Sie, wo Sie sind, Patrão. Warten Sie.«
Bahram blieb stehen, und kurz darauf tauchte, von der Laterne erhellt, Vicos Gesicht aus dem Nebel auf.
»Ich wollte Sie abholen, Patrão«, sagte Vico. »Die Laternenträger sind heute nicht erschienen, und bei dem Nebel dachte ich, Sie brauchen vielleicht eine Laterne. Ich wollte gerade zum Klub, da habe ich Ihre Stimme gehört. Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Mit Allow.«
»Mit wem?« Vicos Augen weiteten sich. »Mit wem, sagten Sie?«
»Mit Allow. Er war direkt vor mir. Haben Sie ihn nicht gesehen?«
»Nein, Patrão.«
Vico fasste Bahram am Arm und drehte ihn zum Achha Hong hin.
»Das kann nicht Allow gewesen sein, Patrão. Sie müssen jemand anders gesehen haben.«
»Wieso?«, fragte Bahram verwundert. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Allow war. Er ging direkt vor mir.«
Vico schüttelte den Kopf. »Nein, Patrão. Das muss jemand anders gewesen sein.«
»Was soll das, Vico? Ich sage doch, ich habe Allow gesehen.«
»Sie können ihn nicht gesehen haben, Patrão«, antwortete Vico sanft. »Allow ist nämlich nicht geflüchtet, wie wir dachten, Patrão. Er ist verhaftet worden.«
»Was?« Bahram strich sich über seinen Bart. »Dann hat man ihn also wieder freigelassen? Wie kommt er sonst auf den Maidan?«
Vico blieb stehen und legte Bahram die Hand auf den Arm.
»Das war nicht Allow, Patrão. Allow ist tot. Der Mann, der heute Morgen auf dem Maidan hingerichtet werden sollte, das war Allow. Gerade ist sein Name bekannt gegeben worden: Ho Lao-kin – so hieß Allow doch, erinnern Sie sich? Nach den Ausschreitungen hat man ihn zur Hinrichtungsstätte gebracht. Er ist heute Nachmittag erdrosselt worden.«
Dreizehntes Kapitel
4. Januar 1839!!
Noch nie ist es vorgekommen, liebe Paggli, dass ich einen Brief in einem Jahr angefangen und erst im nächsten beendet habe! Aber es ging nicht anders, denn die Flussschifffahrt ist noch immer eingestellt. Erst heute Morgen hieß es, die Sperre
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