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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Kanton geflüchtet, wo sie auf andere Gedanken zu kommen hofften.
    Über dem Stimmengewirr der Menge hörte man das Lallen ihrer englischen Kameraden.
    »… schaut euch den alten Betbruder da drüben an … «
    »… die wollen den doch nicht etwa ans Kreuz nageln?«
    »… verdammte Gotteslästerung nenn ich das … «
    Der Verurteilte wehrte sich jetzt noch rasender als zuvor. Sein Kopf war als einziger Körperteil nicht an den Stuhl gefesselt, und sein Pferdeschwanz peitschte hin und her. Speichel tropfte ihm aus dem Mund, und dicke Haarsträhnen klebten ihm im Gesicht. Auf ein Wort des Mandarins öffnete ein Diener einen Kasten und nahm eine Pfeife heraus.
    »Ja, leck mich! Eine Opiumpfeife!«
    »Opium? Aber kriegt der nicht genau deswegen den Strick um den Hals?«
    Der Gefangene hatte die Pfeife nun auch gesehen, sein ganzer Körper strebte zu ihr hin, und sein Gesicht zog sich um den sabbernden offenen Mund zusammen. Als ihm die Pfeife zwischen die Lippen gesteckt wurde, verfiel die Menge in Schweigen, sodass sein gieriges Saugen deutlich zu hören war. Er schloss die Augen und hielt den Rauch in der Lunge, dann atmete er ihn aus und schloss die Lippen von Neuem um die Pfeife.
    Plötzlich zerrissen empörte Rufe die unheimliche Stille: »Sir, im Namen meiner amerikanischen Landsleute muss ich dagegen protestieren, dass … «
    Nil wandte den Kopf und sah drei Herren in Jackett und Hut auf das Zelt zueilen. Ihre Worte gingen in dem neuerlichen Lärm der Menge unter, aber dass es zwischen ihnen und dem Mandarin zu einem hitzigen, von den Matrosen kräftig angefeuerten Wortgefecht kam, war nicht zu überhören.
    »… genau, Kumpel! Lass dir bloß nichts gefallen … «
    »… heiz ihm ein, gib seiner Gnaden Zunder … «
    »… der kommt sich doch wer weiß wie vor … «
    Der Disput endete damit, dass die drei Amerikaner zu dem Fahnenmast marschierten und die Flagge einholten. Dann wandte sich einer von ihnen der Menge zu.
    »Seht ihr, was hier passiert, Leute?«, rief er. »Das ist ein Skandal, so etwas hat es in der Geschichte dieser Enklave noch nie gegeben! Die planen eine Hinrichtung direkt unter unserer Flagge! Was sie damit bezwecken, ist ja wohl klar: Sie wollen uns die Schuld am Tod dieses Mannes zuschieben. Sie beschuldigen uns, seine Komplizen zu sein! Und das ist noch nicht alles. Sie tun es hier auf diesem Platz und bringen damit unsere Flagge mit Schmuggel und Rauschgifthandel in Verbindung. Diese bezopften Wilden beschuldigen uns – die Vereinigten Staaten! England! – gemeiner Verbrechen! Was sagt ihr dazu, Leute? Wollt ihr euch das bieten lassen? Wollt ihr zulassen, dass sie unsere Flagge schänden?«
    »… nie und nimmer … «
    »… wenn die Ärger wollen – den können sie haben … «
    »… die kriegen eins in die Fresse … «
    Während die Rufe der Menge immer lauter wurden, war der Verurteilte verstummt und erweckte den Anschein, als denke er nicht mehr an das, was ihn erwartete. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und er schien in einem Traum verloren. Als zwei Soldaten seine Fesseln lösten und ihn hochzogen, wehrte er sich nicht mehr und wankte zu dem für seine Hinrichtung aufgebauten Gestell. Kurz davor hob er den Kopf und betrachtete es, als sähe er es zum ersten Mal. Ein erstickter Schrei stieg in seiner Kehle auf, und seine Knie knickten ein.
    »… der sieht ja aus wie ausgekotzt … «
    »… wie ’ne Vogelscheuche … «
    Die Stimmen waren direkt hinter Nil. Er drehte sich um und sah einen stämmigen Matrosen mit einer leeren Flasche in der Hand. Der Mann holte langsam aus, und dann kreiselte die Flasche über die Menge hinweg und zersplitterte dicht bei den Soldaten, die mit gezückten Waffen herumfuhren. Beim Anblick ihrer erhobenen Speere brüllten die Matrosen: »Scheißmuschkoten!«
    Die beiden Laskaren schrien: »Banchod-gulake maar, maar … «
    Auch Nil brach jetzt in unflätiges Gebrüll aus. Seine Stimme gehörte ihm nicht mehr, sie war das Organ der Masse, all der Männer um ihn herum, dieser Fremden, die zu Brüdern geworden waren. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen seiner Stimme und ihrer, sie hatten sich zu einem Chor vereinigt, der zu ihm sprach, ihn aufforderte, den Stein vor seinen Füßen aufzuheben, ihn drängte, den Stein zu werfen, so wie die anderen es taten. Und da flog er schon, ein einzelner in einem Hagel von Steinen und Flaschen, die über den Maidan geschleudert wurden, die Soldaten auf die behelmten Köpfe trafen und auf den

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