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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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werde möglicherweise bald aufgehoben. Solchermaßen an meinen angefangenen Brief erinnert, habe ich diese Seiten aus der Schublade hervorgeholt, in der sie seit dem 12. Dezember geschmort haben.
    Ich habe nun den letzten Abschnitt noch einmal durchgelesen und beschlossen, den abgebrochenen Satz, mit dem er endet, zu lassen, wie er ist, denn so wie die halb aufgegessenen Mahlzeiten auf den Tischen von Pompeji davon künden, dass der Vesuv völlig unerwartet ausgebrochen ist, so bezeugt dieses Fragment, wie sehr uns der Aufruhr am 12. Dezember hier in Kanton überrascht hat.
    Da sich Neuigkeiten ja auch ohne Boote verbreiten, hat Dich die Nachricht von den Ausschreitungen bestimmt längst erreicht. Statt Dich nun mit meiner eigenen Schilderung der Ereignisse zu langweilen, lege ich eine Kopie von Mr. Slades Bericht im Canton Register bei. Von mir nur so viel: Das alles hat sich direkt vor meinen Augen abgespielt, und rückblickend erscheint es mir als eine höchst glückliche Fügung, dass ich gerade am Schreibtisch saß, als es begann. Auf diese Weise blieb ich von körperlichen Schäden verschont (im Gegensatz zu manchem, der auf den Maidan hinausging), und mein privilegierter Aussichtspunkt bewahrte mich vor der Versuchung, mich näher an den Schauplatz heranzuwagen.
    Es ist Dir gewiss nicht verborgen geblieben, meine liebe Paggla’zelle, dass Dein armer Robin keine heldischen Ambitionen hegt, und so wird es Dich nicht wundern, dass ich mich nicht aus meinem Zimmer weggerührt habe, bis die Ordnung wiederhergestellt war. Am Nachmittag informierte mich Zadig Bey darüber, dass der britische Superintendent Charles Elliott in Fanqui-Town eingetroffen sei und in Kürze zu den ausländischen Einwohnern sprechen werde. Nachdem Zadig Bey mir versichert hatte, dass keine Gefahr mehr für Leib und Leben bestehe, entschloss ich mich, ihn zu der Versammlung zu begleiten, die im britischen Hong stattfinden sollte, gegenüber Markwick’s Hotel, auf der anderen Seite des Maidan.
    Inzwischen war es wieder vollkommen ruhig in der Enklave, allenthalben standen Wachposten, und von den üblichen Straßenhändlern und Herumtreibern war weit und breit nichts zu sehen. Aber der Boden war noch von den Indizien der Ausschreitungen übersät: Glasscherben blitzten im Staub, herausgerissene und gegen die Mauern der Faktoreien geschleuderte Zaunpfähle lagen herum wie Äste nach einem Sturm, und es schien ein Wunder, dass die Angeln der Tore mancher Faktoreien nicht nachgegeben hatten, so übel zugerichtet waren sie.
    Besonders der amerikanische Hong war schwer in Mitleidenschaft gezogen. Charlie wohnt dort, und ich sah zu meinem Schrecken, dass die Fenster seines daftars – eben des Raumes, in dem er mir Modell sitzt – eingeschlagen waren! Ich bin ja ein ängstlicher Mensch, liebe Paggli, und Du kannst Dir vorstellen, wie erleichtert ich war, als wir Charlie kurz darauf begegneten und ihn unversehrt fanden. Er war allerdings in einem höchst aufgewühlten Zustand, denn die Krawalle hatten schlimme Vorahnungen in ihm geweckt. Sie bewiesen, sagte er, dass die ausländischen Kaufleute sich gründlich irrten, wenn sie glaubten, die Bevölkerung stimme hinsichtlich des Opiums nicht mit der Obrigkeit überein. Sie stehe ganz im Gegenteil uneingeschränkt hinter den amtlichen Maßnahmen, und es herrsche in der Öffentlichkeit die heftigste Empörung darüber, dass die Ausländer straffrei davonkämen – sonst hätten uns die Menschen nicht unversehens attackiert, und wir hätten keinen Polizeischutz benötigt.
    »Der Opiumschmuggel hat uns die Sympathien der Guten gekostet, er hat uns zu Profiteuren der Begierden der Bösen gemacht, und wir haben allen Grund zu der Befürchtung, dass Leidenschaften, die wir selbst geweckt haben, eines Tages ausbrechen und sich gegen uns richten werden.«
    In den gebildeten Schichten, so Charlie, seien viele zu der Überzeugung gelangt, dass die ausländischen Händler wie Kinder seien, denen die Vernunft unbekannt ist. Dass die Mandarine zu der extremen und nie da gewesenen Maßnahme gegriffen hätten, eine Exekution auf dem Maidan anzuordnen, sei ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie jede Hoffnung, mit den Ausländern auf andere, vernünftigere Weise kommunizieren zu können, aufgegeben hätten.
    Über die Unzumutbarkeit der angewandten Methode waren wir uns natürlich alle einig, aber keiner von uns bezweifelte, dass die Mandarine tatsächlich beabsichtigten, in den Fanquis ein Bewusstsein für die

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