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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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nicht viel zu tun und ob ich nicht sein Porträt malen wolle, solange er Zeit habe, dafür Modell zu sitzen. Ich habe natürlich Ja gesagt und schon mehrere Nachmittage in der amerikanischen Faktorei zugebracht, wo er sein Quartier hat.
    Mr. King ist zwar freundlich zu mir, aber ich glaube, er ist ein zurückhaltender, ja sogar wortkarger Mensch. Anfangs sprachen wir wenig, doch dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Eines Tages traf ich auf dem Maidan Mr. Slade, der von mir wissen wollte, ob es wahr sei, dass ich Mr. King male. Als ich bejahte, fing er an, mir Vorhaltungen zu machen: ob ich mich nicht schämte, mit einem solchen Menschen zu verkehren, einer Kreatur von abartiger Neigung, jemandem, der mit den Chinamännern Umgang pflege und für sie Partei ergreife, gegen seinesgleichen. Ich sagte, ich wisse von alldem nichts, Mr. King behandle mich stets freundlich, und ich möge ihn sehr. Mr. Slade ging unter lautem Murren davon, aber ich war wie vom Donner gerührt und konnte mich nicht enthalten, Mr. King von dieser seltsamen Begegnung zu erzählen. Zu meiner Überraschung lachte er nur – ein wenig spöttisch – und sagte, das wundere ihn offen gestanden nicht weiter. Mr. Slade sei ein höchst sonderbarer Mensch; in der Öffentlichkeit verhalte er sich ihm gegenüber häufig beleidigend, privat aber überschütte er ihn oft geradezu mit Freundschaftsbeteuerungen – er habe sogar den Friseur um eine Haarlocke von ihm gebeten! Mr. Slade sehe allenthalben Sittenlosigkeit und Gier, nur bei sich selbst nicht, dabei seien sie gerade dort beheimatet. Dass ein Mensch wie er, so voller Zorn und niedriger Ranküne, Anhänger in Fanqui-Town habe, sei einfach zum Verzweifeln .
    So widerwärtig er auch sein mag – ich sollte Mr. Slade dankbar sein, weil er das Eis zwischen Mr. King und mir gebrochen hat. Denn Mr. King äußert sich seitdem so freimütig mir gegenüber, dass ich das Gefühl habe, ich bin auf dem besten Wege, sein Vertrauter zu werden (er hat mich sogar aufgefordert, ihn Charlie zu nennen!). Und ich bin überzeugt, liebe Paggli, alles, was hier geschieht, setzt ihm fürchterlich zu! Für ihn sind allein die ausländischen Kaufleute verantwortlich für die derzeitige Lage. Das Opium habe sie so reich gemacht, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen könnten, ohne es auszukommen, und sie begriffen nicht, dass es den Chinesen unmöglich geworden sei, weiter Opium zu importieren, weil inzwischen Tausende, vielleicht sogar Millionen davon abhängig seien: Mönche, Generäle, Hausfrauen, Soldaten, Seeleute, Studenten. Noch gefährlicher als das Rauschgift, sagt Charlie, sei die Korruption, die damit einhergehe – Hunderte von Beamten würden bestochen, um den Fortgang des Handels zu sichern. Es gehe um Leben und Tod, denn in den letzten dreißig Jahren habe sich der Opiumexport nach China verzehnfacht . Wenn die Chinesen die Opiumeinfuhr in ihr Land nicht stoppten, werde es sich von innen her zersetzen – und in seinen dunkelsten Momenten glaubt Charlie, dass die Ausländer genau dies wollen, auch wenn sie unentwegt davon reden, dass sie den Chinesen Freiheit und Religion bringen. Mit Beweisen ihrer Schmuggeltätigkeit konfrontiert, greifen sie zu den absurdesten Tricks und glauben, die Chinesen damit täuschen zu können, was ihnen aber nie gelingt. Die jüngste Affäre um Mr. Innes, fürchtet Charlie, hat dazu geführt, dass es zu Unruhen oder gar einem Aufstand kommen könnte (und das ist nicht übertrieben, liebe Paggli, ich habe Jacqua gefragt, und er sieht es ganz genauso. Er hat Freunde, die förmlich danach lechzen , das Haus in Brand zu stecken, in dem Mr. Innes wohnt; nur die Angst vor der Polizei hält sie davon ab).
    … und, ach, liebe Paggli, vielleicht hätte ich die letzten Zeilen nicht schreiben sollen, denn während ich hier sitze, sehe ich von meinem Schreibtisch aus, dass sich auf dem Maidan wieder etwas zusammenbraut. Bannerträger sind aufmarschiert, begleitet von Gongschlägen, flatternden Wimpeln und Feuerwerk. Sie haben sich um die amerikanische Flagge genau in der Mitte des Maidans postiert und drängen die Leute mit ihren Speergriffen zurück, sodass eine Art Lichtung entsteht. Eine Menschenmenge hat sich ringsum angesammelt, und jetzt sind noch mehr Soldaten aufgetaucht, ein ganzer Trupp, und auch einige Mandarine in Sänften. Ich kann es kaum glauben, aber sie haben irgendeine Vorrichtung mitgebracht, die genauso aussieht wie die, die ich auf der Hinrichtungsstätte gesehen habe

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