Der rauchblaue Fluss (German Edition)
chinesische Bäume überwuchert, und auch indische Sträucher hätte man dort nie in tödlicher Umklammerung brasilianischer Schlingpflanzen angetroffen. Dies war ein Werk von Menschenhand, ein botanisches Babel.
Doch selbst im Bedauern über den Verfall des Gartens entging Fitcher nicht, dass sich ihm auch eine einmalige Gelegenheit bot. Ob verwildert oder nicht, der Garten musste viele seltene Pflanzen enthalten, und da sie niemandem mehr gehörten, konnte man einem Sammler wie ihm kaum Diebstahl vorwerfen, wenn er versuchte, sich einige wertvolle Exemplare zu sichern.
Fitcher band sein Pferd an einen der verrosteten Pfosten des alten Portals und ging dann auf das Dickicht der Banyanwurzeln zu, das den Eingang versperrte. Schon nach wenigen Schritten blieb er wie angewurzelt stehen: Der Garten war keineswegs so verlassen, wie es schien, denn als er den Blick senkte, entdeckte er in dem weichen Boden Spuren von einem Paar Schuhe. Er zögerte. Er hatte gehört, dass in manchen Gegenden der Insel noch Räuber ihr Unwesen trieben; es war also durchaus möglich, dass die Spuren von irgendeinem Banditen stammten. Doch da er gewarnt worden war, hatte er eine Pistole und eine Machete mitgenommen. Er überzeugte sich, dass die Pistole geladen war, und steckte sie wieder in die Tasche. Dann nahm er die Machete aus seiner Satteltasche und ging auf das Dickicht zu.
Damit man ihn nicht schon von Weitem kommen hörte, musste Fitcher die Knie heben und wie ein Seiltänzer auf den Zehenspitzen gehen, sonst hätten seine Schuhe auf dem nassen Boden quatschende Geräusche gemacht. Die Spur verlor sich plötzlich in einem dichten Gestrüpp, und Fitcher blieb stehen, um die Lage zu sondieren: Zwar war niemand zu sehen, doch er spürte, dass ganz in der Nähe jemand war. Noch vorsichtiger als zuvor machte er ein paar weitere Schritte, und tatsächlich ließ ihn ein, zwei Minuten später ein Geräusch innehalten: Es war das leise, aber unverkennbare Schaben einer Klinge, die sich ins Erdreich gräbt.
Das Geräusch schien von einer Öffnung zwischen zwei Baumreihen zu kommen. Fitcher versteckte sich hinter einem hohen Bambusdickicht und arbeitete sich langsam vorwärts. Bald konnte er den Rücken des Mannes sehen: Er trug Breeches und ein weites Hemd, saß in der Hocke und grub ein Loch in die Erde – möglicherweise zu dem Zweck, Diebesgut oder vielleicht sogar eine Leiche zu vergraben.
Fitcher machte noch ein paar Schritte zur Seite, um besser zu sehen – und entdeckte zu seiner Verwunderung, dass er sich geirrt hatte: Der Mann hob keine Grube aus, sondern stach nur ein nicht sehr tiefes Loch in die Erde, wie ein Gärtner zum Einpflanzen eines Setzlings. Auch sein Werkzeug war nicht von der Art, wie man es zum Vergraben von Diebesgut oder zum Ausheben einer Grube verwenden würde: Es war eine Pflanzschaufel, und mit dem Blick des Fachmanns sah Fitcher auch, dass der Mann geschickt mit diesem Gerät umzugehen verstand. Dann drehte sich der Mann ein wenig, und Fitcher bemerkte, dass er auch ein Gefäß bei sich hatte; auf den ersten Blick sah es aus wie ein kleiner Eimer, nur hatte es einen vorstehenden kleinen Stift am oberen Rand. Bei näherem Hinsehen erkannte er, dass es sich um ein Umpflanzgerät handelte, wie es Berufsgärtner zum Umsetzen empfindlicher Pflanzen verwendeten.
Nun war guter Rat teuer. War der Mann ein Schurke, der sich als Gärtner ausgab, oder umgekehrt? Oder war womöglich auch er ein Sammler, der sich in dem reichhaltigen Garten bedienen wollte?
Fitcher neigte dazu, Letzteres anzunehmen, als der Gärtner sich plötzlich ein wenig aufrichtete und den Kopf zur Seite wandte. In diesem kurzen Augenblick sah Fitcher, dass es sich um einen jungen Mann handelte, der ganz und gar nicht wie ein brutaler Kerl wirkte. Er war anscheinend unbewaffnet, und Fitcher konnte sich nicht vorstellen, dass er irgendetwas von ihm zu befürchten hatte.
Als er noch überlegte, wie er sich bemerkbar machen könnte, trat er auf ein Stück Bambusrohr, das mit lautem Knacken zerbrach. Der junge Mann fuhr herum und erschrak sichtlich beim Anblick des schlecht getarnten Naturforschers, der eine blitzende Machete in der Hand hielt.
»Verzeihung, junger Mann … «
Fitcher war es peinlich, dass er beim Spionieren ertappt worden war, und er hätte es dem Gärtner nicht verübeln können, wenn er ihn beschimpft oder sogar etwas nach ihm geworfen hätte. Doch statt nach einem Stein zu greifen, hoben sich die Arme des jungen Mannes wie
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