Der rauchblaue Fluss (German Edition)
das Rauschgift inhalierte oder es im rohen, gummiartigen, zähflüssigen Zustand einnahm. Die plötzlich einsetzende Übelkeit und Schwäche trafen ihn völlig unvorbereitet: An die Verluste im Laderaum dachte er nicht mehr; seine Augen und sein Geist waren mit fast hellseherischer Klarheit auf Chi-mei fixiert. Er konnte hinschauen, wo er wollte, stets beschworen seine Augen ihr Gesicht herauf. Wie ein Lampion hing das Bild vor ihm und leuchtete ihm den Weg, als er durch die beengten Innenräume des Schiffes nach achtern ging, zu dem geräumigen, luxuriös ausgestatteten Poopdeck mit den Kajüten der Schiffsoffiziere.
Die Suite des Schiffseigners lag am Ende eines langen Ganges, von dem viele Türen abgingen. Vor einer dieser Türen standen einige Laskaren beisammen, und als sie Bahram kommen sahen, sagte einer von ihnen, ein Tindal, zu ihm: »Sethji – Ihr Munshi ist schwer verletzt.«
»Was ist passiert?«
»Durch das Schwanken des Schiffes muss er aus der Koje gefallen sein. Irgendwie hat sich seine Seekiste selbstständig gemacht und ist auf ihn draufgefallen.«
»Kommt er durch?«
»Kann ich nicht sagen, Sethji.«
Der Munshi war ein ältlicher Mann, auch er ein Parse. Er führte seit vielen Jahren Bahrams Korrespondenz. Bahram konnte sich nicht vorstellen, wie er ohne ihn zurechtkommen sollte, konnte aber auch nicht die Kraft aufbringen, um ihn zu trauern.
»Gibt es noch andere Opfer?«, fragte Bahram den Tindal.
»Ja, Sethji, zwei Mann sind über Bord gegangen.«
»Und welche Schäden hat das Schiff davongetragen?«
»Der ganze vordere Teil ist weggerissen worden, Sethji, alles, auch der Klüverbaum.«
»Und die Galionsfigur auch?«
»Ja, Sethji.«
Die Galionsfigur war eine Skulptur von Anahita, dem Engel, der über die Gewässer wachte. Sie war ein geschätztes Erbstück der Familie seiner Frau, der Mistries, denen die Anahita gehörte. Er wusste, dass sie ihren Verlust als ein böses Vorzeichen sehen würden, doch damit konnte er sich jetzt nicht befassen. Er hatte nur den einen Wunsch, möglichst schnell in seine Kajüte zu gelangen und sich seiner Kleider zu entledigen.
»Sorgen Sie dafür, dass man sich um den Munshiji kümmert, und unterrichten Sie den Kapitän … «
»Ja, Sethji.«
Paulettes Beitrag zu dem Schrein brauchte man Nil nicht zu zeigen, er entdeckte ihn selbst. Es war der Umriss eines Männerkopfes, im Profil gezeichnet, ähnlich jenen karikaturhaften Darstellungen, in denen menschliche Züge in die Krümmung einer Mondsichel eingepasst werden: Die Nase war ein langer Rüssel, die Augenbrauen standen ab wie die Schnurrhaare eines Frettchens, und das Kinn verschwand in einem spitz zulaufenden, nach oben gedrehten Bart.
»Weißt du, wer das ist?«, fragte Diti.
»Ja, natürlich«, erwiderte Nil. »Es ist Mr. Penrose … «
Das Gesicht von Mr. Penrose vergaß man nicht so leicht: Es war hager und zerfurcht, mit vorspringender Stirn und einem sensenblattförmig nach oben gekrümmten Kinn. Hochgewachsen und sehr schlank, ging er gebückt, den Blick auf den Boden geheftet, als wollte er die Pflanzen katalogisieren, auf die zu treten er im Begriff war. Da er keinerlei Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte, sah man ihn oft mit Strohhalmen im Bart oder Kletten an den Strümpfen, und was seine Kleidung betraf, so besaß er kaum ein Stück, das frei von Flicken und Flecken war. Wenn er in Gedanken versunken war (was häufig vorkam), zitterten und zuckten sein Spitzbart und seine borstigen Augenbrauen, als wollten sie kundtun, dass man diesen Mann nicht ohne guten Grund ansprechen sollte. Dieser Tic war beileibe keine Alterserscheinung, denn schon als Kind hatten ihm sein starrer Blick und seine zuckenden Brauen den Spitznamen »Fitcher« – Iltis – eingetragen.
Doch trotz all seiner Schrullen und Marotten sorgten sein gesetztes Betragen und sein durchdringender Blick dafür, dass ihn niemand für einen bloßen Wirrkopf und Exzentriker hielt. Frederick »Fitcher« Penrose war sogar ein ungewöhnlich erfolgreicher und wohlhabender Mann: Als renommierter Baumschulgärtner und Pflanzensammler hatte er sehr viel Geld mit dem Vertrieb von Samen, Setzlingen, Ablegern und Gartengeräten verdient – seine patentierten Moosentferner, Rindenschäler und Vertikutierer fanden in England viele begeisterte Abnehmer. Seine Hauptfirma, die Baumschule Penrose & Sons, war in Falmouth in Cornwall ansässig: Ihren guten Ruf hatte sie ihren Importen aus China zu verdanken, von denen manche –
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