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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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vermutlich die Abschiebung der Herren Dent, Jardine und Moddie auferlegen.‹«
    »Wie war das?«, fragte Bahram. »Mr. Slade spricht von ›Abschiebung‹?«
    »Ja, Sethji, so formuliert er es. Er geht davon aus, dass Ho Lao-kins Hinrichtung ein Signal war … «
    »Halt!« Bahram hielt sich die Ohren zu. »Munshi – bas!«
    »Ja, Sethji, natürlich.«
    Bahram bemerkte, dass seine Hände leicht zitterten. Um sich wieder beruhigen zu können, schickte er den Munshi fort.
    »Sie können auf Ihr Zimmer gehen, Munshi«, sagte er. »Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.«
    »Ji, Sethji.«
    Als sich die Tür geschlossen hatte, trat er ans Fenster und schaute auf den Maidan hinunter. Es herrschte dort neuerdings weniger Betrieb als früher, und statt der üblichen Herumtreiber sah man Männer, die nicht hierherzugehören schienen und die den Eindruck erweckten, als behielten sie die Anwohner genau im Auge.
    Während er so am Fenster stand, kam es Bahram vor, als hätten sich mehrere Augenpaare auf ihn gerichtet. Waren dort unten Leute postiert, die ihn beobachten sollten? Oder bildete er sich das nur ein?
    Das Schlimmste war, dass es keine Möglichkeit gab, sich Gewissheit zu verschaffen.
    Sein Blick wanderte zu dem Mast hinüber, an dem die amerikanische Flagge geweht hatte. Sie war nicht wieder gehisst worden, so wenig wie alle anderen Flaggen. Das Bild der Enklave hatte sich dadurch verändert, es fehlten die charakteristischen Farbtupfer. Die leeren Fahnenmasten waren wie Mahnmale jenes Tages – jenes Morgens, als der Galgen errichtet und der Stuhl gebracht worden war, auf dem …
    Der Name des Burschen lag Bahram auf der Zunge, aber er schluckte ihn hinunter. Es war, als hätte etwas Fremdes, Unreines seinen Mund besudelt, und er verspürte das Bedürfnis, ihn auszuspülen. Er ging über den Flur und öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer. Wie es bei den Parsen Brauch war, schmückte ein Toran den Türrahmen, ein Perlenbehang, den seine Mutter ihm zur Hochzeit geschenkt hatte. Der Toran hatte ihn auf allen seinen Chinareisen begleitet und war im Lauf der Jahre zu einem Bindeglied zwischen ihm und seiner Vergangenheit geworden, zu einem Talisman.
    Bahram wollte gerade ins Zimmer treten, da sah er, dass der Toran von seinem Platz über dem Türsturz gerutscht und irgendwie am Türpfosten hängen geblieben war. Als Bahram ihn losmachen wollte, rissen die alten Schnüre, und ein Perlenschauer regnete auf ihn herab. Erschrocken wich er zurück und murmelte: »Dadar thamari madad – Hilf mir, allmächtiger Gott!«
    Er kniete nieder und begann die winzigen Glasperlen aufzulesen, klaubte sie aus den Ritzen des Holzfußbodens und steckte sie in die Brusttasche seines choga.
    Ein Diener kam ihm zu Hilfe. »Sethji, lassen Sie mich das … «
    »Nein!«, rief Bahram, ohne auch nur aufzuschauen. »Zurück! Weg da!«
    Der Gedanke, dass jemand anders die Perlen seiner Mutter berühren könnte, war ihm unerträglich, und er blieb auf Knien, bis auch die letzte wieder eingesammelt war. Als er aufstand, bemerkte er mehrere Khidmatgars, die im Flur beieinanderstanden und ihn schweigend beobachteten.
    »Fort mit euch!«, rief er. »Habt ihr nichts zu tun? Macht, dass ihr wegkommt, aber dalli!«
    Er schlug die Tür zu und legte sich hin. Tränen brannten hinter seinen Lidern, und er vergrub das Gesicht im Kissen.
    Am nächsten Tag berichtete ihm Vico, dass die Stadtverwaltung eine Bekanntmachung herumgeschickt habe, in der alle ausländischen Faktoreien aufgefordert wurden, ihre Hintereingänge dauerhaft zu verschließen. Es war keine große Sache, doch sie beunruhigte Bahram zutiefst, und unwillkürlich fragte er sich, ob sie speziell auf ihn gemünzt war. Konnte es sein, dass ihn jemand erkannt hatte, als er die Creek-Faktorei durch den Hintereingang verlassen hatte? Oder war Vico gesehen worden, als er … ?
    »Meinen Sie, die haben Sie gesehen, Vico?«, fragte er. »Die haben ihre Spione ja überall. Vielleicht sind Sie beobachtet worden, als Sie diesen Burschen durch den Hintereingang hereingebracht haben.«
    »Sie meinen Allow?«
    »Bas! Sie wissen doch, wen ich meine, Vico! Kein Grund, den Namen auszusprechen.«
    Vico sah ihn befremdet an und senkte den Blick. »Tut mir leid, Patrão, tut mir leid. Es soll nicht wieder vorkommen.«
    Aber auch Vico konnte das Echo des Namens nicht zum Verstummen bringen.
    Einige Tage später kam er zu Bahram heraufgeeilt und sagte: »Patrão, Mr. King ist unten. Er möchte Sie

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