Der rauchblaue Fluss (German Edition)
lockeren und doch ehrerbietigen Umgang mit der Religion unterschied sich Bahram nicht wesentlich von seinen Kollegen; im Gegensatz zu ihnen aber neigte er nicht zum Aberglauben – er war einer der wenigen, die niemals den Rat eines Wahrsagers, Astrologen, Hellsehers oder dergleichen einholten. Das lag vor allem daran, dass er stets mehr auf seine eigene Klugheit und Weitsicht vertraut hatte als auf die Weissagungen von Schicksalsdeutern.
Jetzt aber, als die Dezemberkühle in die lähmende Januarkälte überging, begann er wie nie zuvor an seiner Fähigkeiten zur Vorausschau zu zweifeln. Wohin er sich auch wandte, überall herrschte Verwirrung, und jeden Tag kamen neue Erklärungen und Erlasse, die die Verunsicherung noch vermehrten.
Manchmal, wenn nachts der Nebel vom Fluss heraufzog, schaute er aus seinem Schlafzimmerfenster und glaubte Allow unten auf dem Maidan zu sehen. Er schien zu seinem Fenster heraufzuwinken, ihn mit dem Finger zu locken, ihm zu bedeuten, er solle ihm ans Wasser folgen. Sein Verstand sagte ihm, dass seine Augen ihm einen Streich spielten, doch so, wie er neuerdings auch von allerlei anderen Ängsten und Fantasien heimgesucht wurde, bildete er sich immer wieder ein, Allow warte im Dunkeln auf ihn. Er ertrug es nicht, auch nur im Geiste seinen Namen auszusprechen: Ho Lao-kin, Allow – der Klang der Silben hatte etwas von einem Mantra angenommen, das die Toten beschwören konnte.
Doch sosehr er sich auch mühte, sie aus seinem Kopf zu vertreiben – das Echo der beiden Namen wollte nicht verstummen.
Eines Morgens beim Frühstück sagte der Munshi: »Sethji, Mr. Slade hat einen langen Artikel geschrieben, in dem er Captain Elliott heftig kritisiert.«
»Weswegen?«
»Er ist empört, weil Captain Elliott sich öffentlich gegen den Opiumschmuggel auf dem Fluss geäußert hat.«
»Lesen Sie vor, Munshi.«
»›Captain Elliotts Worte enthalten einen klaren Widerspruch: Einerseits verurteilen er und die englische Regierung den Opiumschmuggel auf dem Fluss , andererseits billigen und fördern sie ihn abseits des Flusses und an den Küsten Chinas. Hundert Kisten außerhalb der Bogue zu schmuggeln ist weder eine Straftat noch ein Makel, aber eine einzige Kiste oder auch nur einige Opiumkugeln innerhalb davon zu schmuggeln ist beides! Welch bewundernswerter Gleichklang der Prinzipien, die da von der Regierung und von Personen des öffentlichen Lebens vertreten werden! Welch bewundernswerter Gleichklang ihrer politischen und kaufmännischen Moral! Und wie will Captain Elliott der Lokalverwaltung die Anordnungen der Engländer erklären, ohne den Opiumhandel insgesamt einzubeziehen?‹«
Der Munshi hielt inne und warf Bahram einen Blick zu. »Soll ich fortfahren, Sethji?«
»Ja. Lesen Sie weiter.«
»›Wie soeben verlautet, hat Captain Elliott über die Hong-Kaufleute eine Eingabe an den Gouverneur von Kanton gerichtet. Damit hat er gegenüber dieser verlogenen, korrupten und ungerechten Verwaltung das Eigentumsrecht britischer Staatsbürger verraten und ihren Charakter verunglimpft. Dem Vernehmen nach hat er den Gouverneur ersucht, ihm das Kommando über einen chinesischen Kreuzer zu übertragen, um höchstpersönlich die in britischem Besitz befindlichen Boote aus dem Fluss vertreiben zu können. Dieses Vorgehen kommt in unseren Augen geradezu einem Verbrechen wider das Privileg der Königin gleich, stellt sich Captain Elliott damit doch unerlaubt in den Dienst eines ausländischen Herrschers.
Wie jedermann weiß, werden üblicherweise – außer bei Kapitalverbrechen – praktisch alle chinesischen Gesetze außer Kraft gesetzt, wenn Ausländer betroffen sind. Sollen die Chinesen ruhig ihre Opiumpfeifen genießen, soll der Kaiser mit seinen Magnaten ruhig weiter seine grausame, unentschuldbare Politik des Opferns von Menschenleben um des Schwelgens in einer schwächenden Gewohnheit willen betreiben, bis sich Speere und Lanzen erheben und Rache üben für die Missherrschaft der Dynastie.‹«
Wieder blickte der Munshi auf.
»Sie werden auch erwähnt, Sethji.«
»Ich?« Bahram schob seinen Teller beiseite und stand rasch auf. »Was steht da?«
»›Wer hätte je gedacht, dass sich ein britischer Superintendent zum Lakaien des Gouverneurs von Kanton machen und ihm seine Dienste anbieten würde, zum Nachteil jener, die zu schützen er kraft seines Amtes verpflichtet ist? Sobald Captain Elliott sich im Dienst der Mandarine ausgezeichnet hat, wird ihm seine Exzellenz als nächste Pflicht
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