Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Veränderung hatte sich dort vollzogen: Es war, als wäre ein Jahrmarkt über Nacht in einen Exerzierplatz umgewandelt worden. Die Menschen, die man sonst dort sah, waren verschwunden, und überall marschierten Bewaffnete umher – es mochten über fünfhundert sein – oder standen wachsam unter den Fahnen und Wimpeln ihrer Einheiten.
Und noch mehr veränderte sich im Lauf des Tages: Am Vormittag erschien ein Trupp Arbeiter und baute mitten auf dem Platz ein Zelt auf, in das dann eine Gruppe Dolmetscher einzog, angeführt von Old Tom, dem rangältesten Vertreter seines Berufsstandes.
Was genau machten sie dort?
Nil wurde ausgeschickt, um Nachforschungen anzustellen, und berichtete dann, sie hätten sich mit Fragen und Beschwerden der Bewohner zu befassen. Habe ein Ausländer beispielsweise Wäsche zu waschen, brauche er sie nur in das Zelt zu bringen, die Dolmetscher würden dann dafür sorgen, dass der Auftrag ordnungsgemäß ausgeführt wurde.
Dem Seth blieb der Mund offen stehen. »Sie halten uns hier gefangen und machen sich Gedanken um unsere Wäsche?«
»Ja, Sethji. Sie möchten nicht, dass den Fremden auch nur die geringste Unannehmlichkeit entsteht, sagen sie.«
Kurze Zeit später wurden mehrere große Sessel unter dem Balkon des britischen Hongs aufgestellt. Cohong-Kaufleute erschienen auf dem Maidan, nahmen in den Sesseln Platz und hielten dort den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch schichtweise Wache. Es schien, als müssten sie Buße dafür leisten, dass es ihnen nicht gelungen war, die Fremden zur Auslieferung ihrer Schmuggelware zu bewegen.
Jetzt kamen – einzeln oder zu zweit – europäische Matrosen und Laskaren auf den Maidan getorkelt, die am Tag zuvor auf Landurlaub nach Fanqui-Town gekommen waren, sich in den Kaschemmen der Hog Lane sinnlos betrunken hatten und sich jetzt mit der veränderten Realität der Enklave konfrontiert sahen. Sie saßen in Fanqui-Town fest und boten sich als Arbeitskräfte an.
Da viele der ausländischen Kaufleute keine Diener mehr hatten, rief die Nachricht große Aufregung in den Faktoreien hervor: Gestandene alte Händler kamen halb angezogen aus den Hongs gelaufen und stürzten sich, übereinanderstolpernd, auf die noch vom Schnaps benebelten Männer. Keiner blieb ohne Arbeit, im Handumdrehen wurden sie in die Hongs geschleppt, um diesem oder jenem Herrn zu dienen.
Mitten am Nachmittag, als der Maidan im Sonnenglast brütete, kam Babu Nob Kissin in den Achha Hong gestürmt. »Bachao – Hilfe! Rettungsmaßnahmen müssen umgehend eingeleitet werden!«
»Was ist passiert, Babu Nob Kissin?«
»Kühe! Sie leiden an Hitzschlag und Sonnenbrand!«
Wie sich herausstellte, hatte der Abzug der chinesischen Angestellten Fanqui-Towns kleine Rinderherde ihrer Betreuer beraubt, und die Mittagshitze setzte ihr schwer zu. Ihre Notlage hatte das Herz des Kühe liebenden Milchmädchens gerührt, das sich in Babu Nob Kissins Brust verbarg, und er würde nicht eher ruhen, als bis Nil einige Khidmatgars aufgeboten hatte, die ihm halfen, einen behelfsmäßigen Sonnenschutz aus Bambusmatten über dem Viehpferch zu errichten.
Gegen Abend erschien eine neue Miliz auf dem Maidan, fast vollständig aus den Männern rekrutiert, die als Diener in den ausländischen Faktoreien gearbeitet hatten. Sie waren mit Spießen, Lanzen und Stöcken bewaffnet und hatten schmucke Jacken und Schärpen an. Jeder trug einen Rattanschild, und auf jedem Kopf saß ein steifer spitzer Hut, auf dem große chinesische Schriftzeichen prangten.
Nil kannte einige von ihnen und war verblüfft, wie sehr sich ihr Auftreten verändert hatte: Als Diener verlottert und unterwürfig, bildeten sie jetzt in ihren neuen Uniformen eine so stolze Truppe, wie er nur je eine gesehen hatte.
Am Abend servierte Mesto ein Festmahl aus Huhn: marghi na farcha, eine herzhafte alleti-paleti, einen cremigen marghi na mai vahala und knusprige Koteletts.
»Das ist ja ein burra-khana!«, sagte Nil. »Gibt’s einen bestimmten Grund dafür?«
Vico nickte. »Der Seth ist seit Tagen nicht mehr aus dem Haus gegangen – seit er so eilig von Mr. Dent zurückgekommen ist. Mesto hat einige von seinen Parsi-Lieblingsspeisen gemacht, um ihn ein bisschen aufzumuntern.«
Am nächsten Morgen wurde eine Nachricht von Captain Elliotts Privatsekretär für Bahram im Achha Hong abgegeben. Es war eine dringende Einladung zu einer Sitzung im Konsulat. Bahram konnte sie nicht ignorieren, und so zog er sich rasch um und ging nach unten.
Er
Weitere Kostenlose Bücher