Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Integrität setzte er es sich zum Ziel, jedes Darlehen bis auf den letzten Anna zurückzuzahlen. Die Familie geriet dadurch in bitterste Not und hatte oft nur einige wenige Kaurimuscheln in ihrer Schatulle, zu wenige, als dass sie, so eine alte Redensart, aufgefädelt länger als ein Arm gewesen wären. Sie musste ihr wunderschönes altes haveli verkaufen und in eine kleine Wohnung am Stadtrand ziehen, und das erwies sich als verhängnisvoll, sowohl für den alten Mann als auch für dessen Sohn, Bahrams Vater, der an Tuberkulose litt. Er erlebte Bahrams Navjote – den Initiationsritus der Parsen – nicht mehr.
Zum Glück für den Jungen und seine beiden Schwestern hatte ihre Mutter als Mädchen ein einträgliches Handwerk erlernt: Sie war eine außergewöhnlich geschickte Stickerin, und die Kopftücher, die sie verzierte, wurden allseits geschätzt und bewundert. Als sich die Kunde vom Unglück der Familie in der Stadt herumsprach, gingen Bestellungen in großer Zahl ein, und dank Sparsamkeit und harter Arbeit konnte sie ihre Kinder nicht nur ernähren, sondern Bahram auch eine rudimentäre Schulbildung angedeihen lassen. Mit der Zeit verbreitete sich ihr Ruf bis nach Bombay, und eines Tages erhielt sie einen bedeutenden Auftrag: Sie wurde gebeten, bestickte Hochzeitstücher für die Tochter eines der führenden parsischen Geschäftsleute der Stadt anzufertigen. Dieser Unternehmer war kein anderer als Seth Rustamji Pestonji Mistrie.
Die beiden Familien waren einander nicht fremd, denn die Mistries hatten ihre Firma ebenfalls in Navsari gegründet. Angefangen hatten sie mit einer kleinen Möbeltischlerei, die von den Modis in ihren glücklichen Zeiten ausgiebig in Anspruch genommen und unterstützt worden war. In einem Schuppen neben der Werkstatt wurden Boote gebaut, und obzwar zunächst nur klein und unbedeutend, entwickelte sich dieser Geschäftszweig in kurzer Zeit so gut, dass er bald den anderen Tätigkeitsfeldern voraus war. Als sie einen Großauftrag von der Ostindien-Kompanie erhielten, übersiedelten die Mistries nach Bombay und eröffneten dort eine Werft im Hafenviertel Mazagon. Nachdem er an die Spitze des Unternehmens gelangt war, hatte Seth Rustamji es mit großer Tatkraft erweitert, und unter seiner Leitung entwickelte sich die Mistrie-Werft zu einem der bedeutendsten Unternehmen auf dem indischen Subkontinent. Und nun sollte seine Tochter den Spross einer der reichsten Kaufmannsfamilien des Landes ehelichen, der Dadiseths aus Colaba, und die Hochzeit sollte in beispielloser Pracht gefeiert werden.
Doch wenige Tage vor dem Beginn des Festes, als bereits alle Vorbereitungen getroffen waren und die erwartungsvolle Spannung ihren Höhepunkt erreichte, schlug das Schicksal zu: Einer von Dadiseths Geschäftsfreunden in Aden hatte dem Bräutigam einen prachtvollen Araberhengst zum Geschenk gemacht, und der junge Mann, der erst fünfzehn war, bestand auf einem Ausritt am Strand. Das Pferd war nach der langen Seereise desorientiert und ungebärdig. Es galoppierte wie wild über den Sand, der Junge wurde abgeworfen und starb.
Für die Familie Mistrie war sein Tod ein zweifaches Desaster: Nicht nur hatten sie den Schwiegersohn ihrer Träume verloren, sie mussten sich auch damit abfinden, dass es nach dieser Tragödie schwierig oder sogar unmöglich sein würde, noch einmal eine angemessene Partie für ihre Tochter zu finden: Der Makel des Unglücksfalls würde für immer an ihr haften. Als sie nach einiger Zeit wieder ihre Fühler ausstreckten, bestätigten sich ihre Befürchtungen alsbald: Die missliche Lage des Mädchens stieß auf großes Mitgefühl, doch annehmbare Heiratsangebote blieben aus. Als sich zeigte, dass aus ihrem eigenen Kreis keine Anträge zu erwarten waren, erweiterten die Mistries ihre Suche widerstrebend über die Stadtgrenzen hinaus bis an den Ort ihrer Herkunft, wo sie nach kurzer Zeit den Weg zur Tür von Bahrams Mutter fanden.
Obwohl in letzter Zeit vom Unglück verfolgt, galt dieser Zweig der Modis als respektabel, und Bahram selbst war ein kräftiger, gut aussehender junger Mann, halbwegs gebildet und mit seinen fast sechzehn Jahren im besten Alter. Da man ihm Gutes von Bahram berichtet hatte, traf sich der Seth während einer Geschäftsreise nach Navsari mit ihm und war beeindruckt von dessen Energie und Tatendrang. Er kam zu dem Schluss, dass der junge Mann ein würdiger Partner für seine Tochter wäre, obwohl er nicht die besten Manieren hatte und in bitterster Armut
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