Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Hand weg, und er wandte sich wieder Nil zu.
»Tut leid«, sagte er mit glänzenden Augen. »Lange kein Frau haben. Kein Chance für jaahk.« Er lachte und schenkte ihnen beiden von dem Schnaps nach. »Nur seh dich. Wir beide, an Fuß gebunden wie Huhn.« Er zeigte auf die zusammengebundenen Hühner, die vom Dach des Boots hingen, und lachte erneut.
Nil nickte: »Stimmt.«
Durch ihre gemeinsame Zeit auf See waren sie einander so nahegekommen, gleichsam so miteinander verwachsen, dass sie sich nur noch im Tandem bewegen konnten. Nil hatte noch nie mit einem anderen Menschen so viel Zeit auf so engem Raum verbracht, hatte noch nie so weitgehende Intimität mit der körperlichen Gegenwart eines anderen erlebt –, und trotzdem hatte er jetzt, wie schon oft zuvor, das Gefühl, rein gar nichts über Ah Fatt zu wissen.
»Willst du damit behaupten«, fragte Nil, »du bist mit Seth Rustamji Mistrie verwandt?«
»Ja, durch Vater. Sein älter Frau Tochter von Seth. Lang Zeit nicht mal ich gewusst … «
Ah Fatt war fast schon erwachsen gewesen, als er dahinterkam, dass er Verwandte im fernen Bombay hatte. Als Kind hatte man ihm gesagt, er sei Waise, seine Eltern seien gleich nach seiner Geburt gestorben und er sei von seiner verwitweten ältesten Tante großgezogen worden – seiner Yi Ma. Diese Geschichte wurde auch allen erzählt, die sie kannten, im Hafen von Kanton und in Fanqui-Town. Nichts an Ah Fatts Aussehen wies auf seine Abstammung hin, nicht einmal seine Hautfarbe, denn eine sonnengebräunte Haut war unter Schiffern nichts Ungewöhnliches. Als er heranwuchs, sah er keinen Unterschied zwischen seiner Familie und den Familien in seiner Umgebung, außer dass er einen reichen Wohltäter hatte, »Onkel Barry«, einen »Weißer-Hut-Ausländer« aus Indien, der sein Patenonkel war, sein »Kai-yeh«. Onkel Barry, so sagte man ihm, sei der Dienstherr seines Vaters gewesen. Nach dem Tod seiner Eltern hätte er sich verpflichtet gefühlt, sich um das verwaiste Kind zu kümmern. Deshalb habe er Yi Ma Geld für seinen Lebensunterhalt gegeben, ihm Geschenke aus Indien mitgebracht und seine Lehrer und Privatlehrer bezahlt.
Yi Ma bestärkte Onkel Barry nicht in seinen Ambitionen, den Jungen betreffend, und sie billigte es auch nicht, dass er so viel Geld für solche Dinge ausgab. Schulunterricht für ein Schifferkind zu arrangieren war keine Kleinigkeit, und Onkel Barry musste dafür tief in die Tasche greifen. Er wollte, dass der Junge sowohl klassisches Chinesisch als auch Schulenglisch lernte. Das Kind sollte zu einem »achtbaren« Mann heranwachsen, der in der Lage sein würde, sich ungezwungen unter den Kaufleuten von Fanqui-Town zu bewegen und sie mit seinen sportlichen Leistungen ebenso zu beeindrucken wie mit seinem Wissen. Yi Ma sah nicht ein, wozu das alles gut sein sollte. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn Onkel Barry ihr das Geld gegeben und den Jungen in Ruhe gelassen hätte. Was nützte es, ihm Kalligrafie beizubringen, wenn Schiffer von Gesetzes wegen doch ohnehin nicht an den Aufnahmeprüfungen für den öffentlichen Dienst teilnehmen durften? Wozu sollte er Box- und Reitstunden nehmen, wenn sich Schiffer nicht einmal Häuser an Land bauen durften? Ihrer Meinung nach sollte er wie ein Schifferkind aufwachsen und fischen, segeln und den Umgang mit Booten lernen.
Doch in ihren Träumen, wenn auch nicht im Wachzustand, musste sich Yi Ma damit abgefunden haben, dass er eigentlich kein Schifferkind war, denn sie hatte oft Albträume, in denen der Junge von einem Drachenfisch – einem Stör – angegriffen wurde. Deshalb ließ sie ihn nicht ins Wasser.
Wie andere Schifferkinder auch wuchs Ah Fatt mit einem am Fußgelenk befestigten Glöckchen auf, damit seine Familie immer wusste, wo er gerade war. Auch er musste in einem Fass sitzen, wenn das Boot unterwegs war, auch ihm wurde ein Holzbrett auf den Rücken gebunden, damit er nicht unterging, wenn er ins Wasser fiel. Doch den anderen Kindern nahm man ihre Bretter und Glöckchen ab, wenn sie zwei oder drei waren, Ah Fatt dagegen musste sie noch viel länger tragen und wurde deshalb immer wieder gehänselt. Im Hafenviertel von Kanton verdienten kleine Jungen Geld damit, dass sie zur Belustigung der Ausländer im Fluss nach Münzen tauchten, nur ihm war das wegen des imaginären Drachenfischs streng verboten.
Doch Yi Ma wusste vermutlich, dass es unmöglich sein würde, ihn vom Wasser fernzuhalten.
»Seit wir sind klein, wir schwimmen … «
Er brach ab, weil
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