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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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macht.«
    Nil wunderte sich besonders deshalb über die herzliche Begrüßung, weil er und Ah Fatt mit ihren fadenscheinigen Hosen, den verdreckten Kitteln und den über die Schultern gehängten Bündeln wie Landstreicher aussahen. »Was hast du zu ihnen gesagt?«, wollte er wissen. »Warum freuen sie sich so, dich zu sehen?«
    »Hab gesprochen in Boot-Sprache«, sagte Ah Fatt in seiner üblichen lakonischen Art. »Sie versteh. Egal. Zeit für essen Reis. Und trinken. Wir trinken Kanton-Grog.«
    Das Küchenboot hatte eine wunderliche Form: Es sah aus, als sei sein Mittelteil bis fast herab zur Wasserlinie herausgeschnitten worden, sodass Bug und Heck in die Höhe ragten. Am Heck befand sich ein hölzernes »Haus« mit einer schweren Tür, und am vorderen Ende war ein strohgedeckter, an den Seiten offener Bereich. Hier saßen die Gäste an zwei erhöhten Planken, die als Tische dienten, und verzehrten ihr Essen. Gekocht wurde im abgesenkten Mittelteil, sodass die Köchin nur aufzustehen brauchte, um die Speisen auf die »Tische« zu stellen.
    Als sie Platz genommen hatten, beugte sich Ah Fatt in den Küchenraum hinunter und wechselte ein paar Worte mit der jungen Frau. Das Gespräch endete damit, dass er auf das Dach des »Hauses« zeigte, von dem Bündel lebender, an den Füßen zusammengebundener Hühner kopfunter herabhingen. Die Frau griff hinauf, packte eines und zog es aus dem Bündel wie eine Frucht oder eine Weintraube. Nach kurzem Gackern und Flattern wurde der jetzt kopflose, doch immer noch an den Füßen zusammengebundene Vogel über die Bordwand gehalten, sodass er im Wasser mit den Flügeln schlug. Allmählich verebbte der Lärm, und eine Minute später wurden Abfälle in einen Fischkorb geworfen, der außen am Boot hing, worauf ein Brodeln und Plätschern zu hören war. Das Zischen von heißem Öl folgte, und schon bald wurden ihnen Teller mit gebratener Leber und Innereien vorgesetzt.
    Es schmeckte so gut, dass Nil die Stäbchen weglegte und mit den Händen weiteraß. Ah Fatt jedoch nahm kaum Notiz von dem Essen, obwohl er vorher behauptet hatte, hungrig zu sein. Kaum hatte er aufgehört, mit der Köchin zu reden, kehrten seine Augen und seine Aufmerksamkeit zu dem havarierten Schiff am anderen Ufer zurück.
    »Warum starrst du ständig dieses Schiff an, Ah Fatt?«, fragte Nil schließlich. »Was ist daran so besonders?«
    Ah Fatt schüttelte den Kopf, als sei er aus einer Trance erwacht. »Wenn ich sagen, du mir nix glauben.«
    »Sag’s mir trotzdem.«
    »Das Schiff gehört … meine Familie. Mein Vater.« Er lachte schallend.
    »Was soll das heißen?«
    »Genau das. Gehört Familie von mein Vater.«
    Ein scharfes, säuerlich riechendes Getränk war ihnen auf den Tisch gestellt worden, und Ah Fatt goss etwas davon in eine kleine weiße Tasse. Dann nippte er daran und lachte, so wie er es manchmal tat, wenn er verlegen oder unsicher war. Ob das ein Zeichen von Ernst oder Frivolität war, vermochte Nil nicht zu sagen, denn Ah Fatt äußerte seine Gemütszustände oft ganz anders als andere Leute. In den wenigen Monaten ihrer Bekanntschaft hatte Nil bereits gemerkt, dass bei Ah Fatt scheinbare Albernheit manchmal ein Symptom brodelnder Wut sein konnte, während längeres grüblerisches Schweigen vielleicht nur bedeutete, dass er schläfrig war.
    Auch jetzt spürte Nil, dass Ah Fatt trotz seines Lachens nicht scherzte oder jedenfalls nicht nur. Zwischen ihm und dem Schiff am anderen Ufer musste eine starke, konfliktbelastete Verbindung bestehen, irgendeine Beziehung, gegen die er ankämpfte.
    »Weißt du überhaupt, wie das Schiff heißt?«, fragte er, in der vagen Hoffnung, Ah Fatt dadurch in Verlegenheit bringen zu können.
    Doch die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Name: Anahita . In Religion von Vater, das Name Göttin von Wasser. Vorn hat Figur von Göttin. War – wie sagt man?«
    »… die Galionsfigur?«
    »Galionsfigur. Jetzt weg. Familie traurig wird sein. Besonders Großvater, hat gebaut Schiff.«
    »Großvater?«, fragte Nil. »Väterlicherseits, meinst du?«
    »Nein«, erwiderte Ah Fatt. »Auf Seite von Vater älter Frau. Seth Rustamji Mistrie: berühmter Schiffbauer in Bombay …«
    Er wurde von der Köchin unterbrochen, die einen Teller mit angebräunten Hühnerfüßen auf den Tisch stellte. Ah Fatt suchte einen Bissen heraus und hielt ihn ihr mit seinen Stäbchen hin, und nach einigem Gelächter erlaubte sie ihm, ihn ihr in den Mund zu schieben. Dann schlug sie kichernd seine

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