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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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wollte Ellen es sich nicht nehmen lassen, auf der Redruth mitzufahren. Als Fitcher versuchte, ihr das auszureden, indem er ihr die Gefahren einer langen Seereise schilderte, konterte sie mit dem Hinweis auf Maria Sibylla Merian, die legendäre Pflanzenmalerin, die im Alter von zweiundfünfzig Jahren von Holland nach Südamerika gereist war. Dem hatte Fitcher wenig entgegenzusetzen, denn er selbst hatte ja Ellens Interesse an der Botanik unter anderem dadurch gefördert, dass er ihr Reproduktionen von Merians Bildern der Blumen und Insekten von Surinam geschenkt hatte.
    Ellen zeigte sich auf ihre stille Art als genauso zäh und entschlossen wie ihr Vater, und am Ende musste Fitcher nachgeben: Eine der Kajüten der Redruth wurde für sie hergerichtet, und die Brigg setzte im Frühjahr Segel, mit einer Besatzung von achtzehn Mann und einer gewichtigen Fracht aus Pflanzen und Gerätschaften. Mit günstigen Winden erreichte man in guter Zeit die Kanarischen Inseln, wo Ellen ihre helle Freude an den Wildblumen der Berge hatte. Sie bestand darauf, an Land zu gehen und einen Hügel zu besteigen – und dort zog sie sich vermutlich das Fieber zu, das mehrere Tage danach ausbrach, als die Redruth längst wieder auf hoher See war. Nichts in der Schiffsapotheke vermochte die Krankheit zu lindern, und Ellen starb, als die Redruth nur noch eine Tagesreise von der Insel St. Helena entfernt war. Fitcher begrub sie dort auf einem dicht mit Glockenblumen und Lobelien bewachsenen Bergfriedhof.
    Als Fitcher Paulette jetzt zur verschlossenen Tür von Ellens Kajüte führte, wusste sie, ohne dass man es ihr gesagt hätte, dass viele Wochen vergangen waren, seit jemand diesen Raum zum letzten Mal betreten hatte.
    »Das ist jetzt Ihr Reich, Miss Paulette. In den Koffern werden Sie auch Kleider von Ellen finden. Sie dürfen sich ihrer gern bedienen, wenn sie Ihnen irgendwie von Nutzen sein können.«
    Mit diesen Worten schloss Fitcher die Tür, damit sie sich einrichten konnte.
    Die Kajüte war weder groß noch besonders aufwendig ausgestattet, besaß aber eine gemütliche kleine Koje und einen Schreibtisch. Außerdem war sie mit allem versehen, was eine alleinstehende junge Dame brauchte, um sich auf einem Schiff voller Männer wohlzufühlen, beispielsweise ein Wasserklosett und ein Porzellanwaschbecken sowie eine Kupferbadewanne, die mittels einer sinnreichen Vorrichtung an der Decke befestigt war.
    Ein Bücherregal neben der Koje vermittelte Paulette eine Vorstellung davon, was für ein Mensch Ellen Penrose gewesen war. Es enthielt eine abgegriffene Bibel, eine Biografie John Wesleys, ein methodistisches Gesangbuch und mehrere andere Bücher religiöser Art. Auch eine kleine Sammlung botanischer Werke war vorhanden, darunter ein Buch mit Illustrationen von Maria Sibylla Merian, aber kein einziger Band mit erzählender Prosa oder Lyrik; offensichtlich hatte Ellen Penrose für Romane und Gedichte ebenso wenig übrig gehabt wie ihr Vater.
    Diesen Eindruck bestätigten auch die Kleider, die Paulette in den Koffern fand. Sie waren schlicht und praktisch, fast gänzlich ohne Rüschen, Spitzen und ähnlichen Firlefanz. Die Kragen der Kleider waren so hoch, dass auch kein Fingerbreit vom Hals frei blieb, und die Farben waren streng: Der größte Teil davon war schwarz. Als Paulette eines der Kleider anprobierte, sah sie, dass es für eine etwas fülligere Figur geschneidert war als ihre, aber in einem der Koffer fand sie Nähzeug, und es war kein Problem, die nötigen Änderungen vorzunehmen.
    Trotzdem hatte sie eine gewisse Scheu, sich Fitcher in den Kleidern seiner Tochter zu zeigen. Doch er achtete gar nicht auf ihr verändertes Aussehen. Er kümmerte sich gerade um eine erkrankte Douglasie und sagte nur: »Holen Sie sich eine Heckenschere.«
    Erst ein paar Tage später bemerkte er einmal nebenbei: »Ellen hätte sich gefreut, dass ihre Kleider noch jemandem nützen können.«
    Paulette war überrascht. »Nun ja, Sir … ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll … für alles.«
    Ein Frosch im Hals hinderte sie, noch mehr zu sagen, und sie war froh darum, denn selbst die wenigen Dankesworte bewirkten schon, dass Fitcher sich buchstäblich vor Verlegenheit wand. Er lief feuerrot an und nuschelte: »Tut mir leid, Miss Paulette, ich kann jetzt … muss diese Arbeit hier fertig machen.«
    Paulette hatte sich schon nach ein, zwei Tagen auf der Redruth eingelebt: Die Besatzungsmitglieder waren froh, dass sie ihnen die Betreuung der Pflanzen

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