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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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bezeichnet werden – sie seien bloße Fälscher und Kopisten, die billige Andenken für Reisende und Seeleute herstellten.
    »Mit Kunst ist nichts mehr los in China, aber auch gar nichts!«
    Fitcher hatte begriffen, dass er den Künstler in einer seiner düsteren Stimmungen angetroffen hatte, und beschloss, sich zu entschuldigen, um vielleicht an einem anderen Tag noch einmal wiederzukommen. Doch als er aufstand, um zu gehen, hatte der Maler, dem seine Griesgrämigkeit vielleicht inzwischen leidtat, Fitcher gefragt, ob er den Weg zu dem Landungssteg kenne, von dem sein Boot ablegen würde. Als Fitcher verneinte, bot Mr. Chinnery ihm an, ihm einen Führer mitzugeben. Zufällig wohne gerade ein Neffe bei ihm, der Sohn seines Bruders; er sei vor einiger Zeit aus Indien eingetroffen und kenne sich schon sehr gut in der Stadt aus.
    Fitcher nahm das Angebot dankbar an, und Mr. Chinnery ließ seinen Neffen rufen, einen jungen Mann Mitte zwanzig. Er zeigte eine ausgeprägte Familienähnlichkeit mit dem Maler: Ihre Gesichter mit den auffallenden Augen und der knubbeligen Nase glichen sich so sehr, dass einer des anderen Avatar hätte sein können, zu unterscheiden nur durch das Alter und vielleicht auch durch eine etwas andere Hautfarbe – der junge Mann war eine Spur dunkler. Hätte Fitcher es nicht besser gewusst, er hätte die beiden für Vater und Sohn gehalten. Und die Ähnlichkeit beschränkte sich auch nicht aufs Aussehen – auf dem Weg zur Anlegestelle erfuhr Fitcher, dass der junge Mann ebenfalls Maler war. Mr. Chinnery sei sogar sein erster Lehrer gewesen, erzählte er. Jetzt wolle er in seine Fußstapfen treten, nach Kanton gehen und sich dort um Aufträge bemühen; dank der Beziehungen seines Onkels habe er bereits die Genehmigung erhalten und werde in den nächsten Tagen abreisen.
    Als er dies hörte, kam Fitcher eine Idee: Er zeigte dem jungen Chinnery die beiden Kamelienbilder und fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, Erkundigungen darüber einzuholen, sobald er in Kanton sei. Der junge Chinnery war ganz begeistert, und auf dem kurzen Weg bis zur Anlegestelle trafen sie eine Vereinbarung: Fitcher würde ihm einen Vorschuss zahlen, und er würde regelmäßig über seine Fortschritte berichten; im Erfolgsfall würde er eine ansehnliche Belohnung erhalten.
    Das Einzige, was Fitcher an diesem Arrangement mit Sorge erfüllte, war, dass er sich von seinen Bildern trennen musste. Doch auch dieses Bedenken wurde rasch ausgeräumt: Es stellte sich heraus, dass der jüngere Mr. Chinnery stolz auf seine Fähigkeiten als Kopist war. Er bat lediglich darum, die Bilder für zwei Tage behalten zu dürfen, länger würde er nicht brauchen, um Kopien davon anzufertigen, und sobald er fertig wäre, würde er die Originale persönlich auf der Redruth abliefern.
    »Darf ich fragen, Sir«, sagte Paulette zögernd, »wie dieser Neffe von Mr. Chinnery mit Vornamen heißt?«
    »Edward – Edward Chinnery.« Fitcher hielt inne und zupfte sich verlegen am Bart. »Aber er sagte, Sie würden ihn als Robin kennen.«
    Paulette hielt die Luft an. »Ach ja?«
    »Der junge Chinnery war sehr davon angetan, möchte ich sagen, dass Sie hier sind; er meinte, Sie seien früher wie eine Schwester für ihn gewesen, aber sie hätten sich wegen irgendeiner Lappalie überworfen. Er sagte, er vermisse Ihre Gesellschaft sehr, nannte sie aber bei einem anderen Namen – wie war das noch? Pag-soundso?«
    »Paggli?« Paulette hatte ihre Hände verlegen an die Wangen gelegt, ließ sie jetzt aber wieder sinken. »Ja – er hatte viele Spitznamen für mich. Robin war … ist … tatsächlich ein sehr guter Freund. Bitte verzeihen Sie mir, Sir. Ich hätte es Ihnen sagen müssen – aber was damals zwischen uns vorgefallen ist, war wirklich zu unglücklich. Soll ich es Ihnen erzählen?«
    »Diese Mühe können Sie sich sparen«, sagte Fitcher mit einem Lächeln. »Mr. Chinnery hat es mir bereits erzählt.«
    Der Ruf kam für alle überraschend: »Kinara! Land ahoi! China voraus! Maha-Chin agey hai!«
    Bahram und Zadig waren auf dem Quarterdeck der Anahita , als der Laskar im Ausguck zu winken und zu rufen begann. Sie traten ans Backbord-Schanzkleid und beschatteten ihre Augen, und schon bald bekam die gerade Linie des Horizonts Zacken und Risse und verwandelte sich in die Silhouette einer zerklüfteten Landschaft. Vor ihnen lag Hainan, die äußerste Südspitze Chinas, und eine Zeit lang segelte die Anahita so dicht unter der Insel, dass Bahram sie durch

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