Der rauchblaue Fluss (German Edition)
ein Fernglas betrachten konnte: Mit ihren steil aufragenden Bergen, dichten Wäldern und goldenen Sandstränden sah sie nicht viel anders aus als Singapur und einige der anderen Inseln, die sie passiert hatten.
Kurz danach riefen die Offiziere alle Mann an Deck und versetzten sie in Alarmbereitschaft, denn die Gewässer um Hainan waren für Piratenüberfälle berüchtigt, und jedes Schiff, das in Sicht kam, musste als verdächtig gelten. Zur Sicherheit musste vorn und hinten je ein Mastausguck aufentern.
»Skysegel setzen!«
Mit Beisegeln an den Rahnocken und Skysegeln an jedem Mast machte die Anahita gute Fahrt vor dem Wind, ihr Bug hob sich über die Wellenkämme und tauchte tief in die Wellentäler, und bei jedem Wechsel der Windseite holte das Schiff stark über. Die Insel verschwand wieder, während es Kurs aufs offene Meer nahm, kam jedoch gegen Sonnenuntergang mit einem wolkenverhüllten Berg erneut in Sicht.
Der Anblick stimmte Bahram heiter, denn er erinnerte ihn an eine andere Reise und eine andere Insel, die er besucht hatte, auf der anderen Seite des Erdballs, vor etwa zweiundzwanzig Jahren.
»Sagen Sie mir«, fragte er Zadig, »erinnern Sie sich noch an die Zeit, als wir dem General begegnet sind?«
Zadig lachte: »Natürlich, Bahram-bhai. Wer könnte das vergessen?«
Das war im Februar 1816, als Bahram und Zadig auf einem Schiff der Ostindien-Kompanie, der Cuffnells , nach England unterwegs waren. Zwei Monate nach dem Auslaufen in Kanton erreichten sie Kapstadt, wo sie eine erstaunliche Nachricht erhielten: Napoleon Bonaparte war auf eine winzige Atlantikinsel verbannt worden. Das war umso überraschender, als zur Zeit ihrer Abreise aus Macao das Gerücht ging, der Herzog von Wellington habe den Kaiser bei Waterloo an einem Baum aufknüpfen lassen. Sie trauten deshalb ihren Ohren nicht, als sie erfuhren, dass Bonaparte auf St. Helena gefangen gehalten wurde. Das war ihr nächster Anlaufhafen, und die Möglichkeit, einen Blick auf den einstigen Kaiser der Franzosen zu erhaschen, versetzte einige Passagiere in helle Aufregung.
Bahrams Kenntnisse der europäischen Politik waren zu der Zeit recht begrenzt, und deshalb ließ ihn die Neuigkeit ziemlich kalt. Für Zadig hingegen war es, als hätte ein Blitz in die Planken unter seinen Füßen eingeschlagen: Zur Zeit von Napoleons Ägyptenfeldzug war er fünfzehn gewesen und hatte in seinem Elternhaus in Masr al-Qadima – oder Altkairo – gelebt. Er erinnerte sich noch daran, welche Panik dort um sich gegriffen hatte, als gemeldet wurde, eine französische Armee habe Alexandria eingenommen und marschiere jetzt auf die Hauptstadt. Als der Staub der kriegerischen Auseinandersetzungen über den Pyramiden aufstieg, war Zadig einer der vielen, die zur Kirche El-Muallaqa hinaufgingen, um dem Geschützdonner zu lauschen, der vom anderen Flussufer herüberdrang.
Napoleons Sieg beeinflusste Zadig in mehrfacher Hinsicht: So nahm er Französischstunden und lernte zusammen mit seinen Cousins reiten, was ihnen als Christen vorher unmöglich gewesen wäre. Seinen ersten Ausritt im Kairoer Ezbekiya-Garten vergaß er nie. Damals trat er auch eine Lehre bei einem französischen Uhrmacher an und legte damit den Grundstein zu seiner späteren geschäftlichen Laufbahn.
Auch unter Zadigs Verwandten gab es viele, deren Leben sich durch Napoleons Feldzug änderte. Zwei seiner Cousins konnten ein wenig Französisch und wurden Dolmetscher für die französische Armee. Andere fanden Arbeit in der neu gegründeten Druckerei. Ein verarmter Onkel, Orhan Karabedian, ein Maler, erlebte den radikalsten Umbruch. Als Ikonenmaler hatte er sich mit Auftragsarbeiten für die Kirche nur mühsam über Wasser gehalten, nun aber konnte er sich vor Anfragen französischer Offiziere kaum retten, die Andenken ans koptische Ägypten mit nach Hause nehmen wollten. Dass er Armenier und kein Kopte war, störte sie nicht.
Der Einmarsch der Franzosen führte indirekt auch zu Zadigs Heirat: Ein Zweig der Familie seiner Mutter sicherte sich einen enorm lukrativen Auftrag zur Belieferung der französischen Armee mit Wein und Schweinefleisch und kam dadurch zu besonders großem Wohlstand. Als Napoleon beschloss, nordwärts nach Palästina und Syrien weiterzumarschieren, wurde ihr jüngster Schwiegersohn, der erst vor Kurzem in ihr Geschäft eingetreten war, dazu ausersehen, den Tross der französischen Armee zu begleiten. Der junge Mann starb ein Jahr später in Jaffa an der Pest. Nach Ablauf der
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