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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Trauerzeit kam die Familie zu dem Schluss, dass ihre junge Tochter nicht den Rest ihres Lebens als Witwe verbringen könne – und so kam es zu Zadigs Heirat.
    Während Napoleon in Ägypten war, sah Zadig ihn nur ein einziges Mal, allerdings aus nächster Nähe. Es geschah, als der Konsul auf dem Weg zum Nilometer war, um die Zeremonie zum Beginn der alljährlichen Nilüberschwemmung zu leiten. Zadig schloss sich einer Gruppe von Zuschauern an und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass Napoleon einen ganzen Kopf kleiner war als er.
    Als sich die Cuffnells jetzt dem Exil des ehemaligen Kaisers näherte, wurden in Zadigs Kopf viele längst vergessene Erinnerungen wach. Vielleicht wäre er noch sentimentaler geworden, wenn er geahnt hätte, dass er dem Mann persönlich begegnen würde, doch das hielt er für ausgeschlossen. Bonaparte sei mit Sicherheit der am schärfsten bewachte Gefangene der Welt, sagte er zu Bahram, an eine Begegnung auch nur zu denken sei töricht. Bald stellten sie jedoch fest, dass einige ihrer Mitpassagiere durchaus diese Hoffnung hegten.
    Die Cuffnells war vor allem ein Frachtschiff, und vier englische Ehepaare waren die einzigen anderen Passagiere an Bord. Aufgrund der räumlichen Verhältnisse auf dem Schiff hatten Zadig und Bahram kaum etwas mit den Briten zu tun: Ihre Kabine befand sich tief im Bauch des Schiffs, dicht über den Bilgen. Sie nahmen ihre Mahlzeiten mit den Serangs, Tindals, Silmagurs und anderen subalternen Offizieren ein, und wenn sie sich die Beine vertreten mussten, geschah dies auf dem Hauptdeck. Die englischen Ehepaare reisten dagegen auf dem Poopdeck und in der Achterhütte, wo auch die Offiziere ihre Unterkünfte hatten. Sie speisten am Tisch des Kapitäns und verbrachten ihre Mußestunden auf dem Quarterdeck, zu dem man nur nach Aufforderung oder auf Einladung Zutritt hatte.
    Trotz dieser Trennung waren die Passagiere einander nicht unbekannt, denn auf dem Hauptdeck kreuzten sich alle Wege, und es kam vor, dass man sich dort begegnete. Dann grüßte man einander unter Verbeugungen und Knicksen, und diese Zeremonien waren zwar durchaus freundlich, aber doch ein wenig steif, wobei die unterschiedliche Kleidung das gegenseitige Unbehagen noch verstärkte – hier Hosen, Jacken und Überzieher, dort wallende Gewänder und ausladende Kopfbedeckungen.
    Obwohl sie so wenig mit ihnen zu tun hatten, waren Bahram und Zadig im Großen und Ganzen über das Tun und Lassen der Engländer im Bilde: Wenn sie unterhalb des Qarterdecks vorbeigingen, bekamen sie oft Teile der Gespräche mit, die über ihren Köpfen geführt wurden. Unter dem Niedergang befand sich eine kleine Nische, und wenn es in der Diskussion oben um etwas ungewöhnlich Interessantes ging, konnten sie von hier aus bequem mithören, ohne entdeckt zu werden.
    Nach dem Auslaufen der Cuffnells in Kapstadt belauschten sie zahlreiche Gespräche über Napoleon.
    »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal den Wunsch haben würde, diese Kreatur mit eigenen Augen zu sehen, diesen Mann, der einst ein veritables Schreckgespenst war … «
    »Es ist in der Tat erstaunlich, dass sich jemand wünschen kann, solch einem Teufel in Menschengestalt gegenüberzutreten, aber ich muss gestehen, dass die Versuchung groß ist.«
    »Wie könnte es auch anders sein, meine Liebe? Ein Ungeheuer in seiner Höhle zu sehen – solch eine Gelegenheit bietet sich nicht alle Tage.«
    Nach etwa einer Woche auf See nahmen die Gespräche auf dem Quarterdeck eine neue Richtung: Statt nur Vermutungen darüber anzustellen, ob man Napoleon vielleicht zu Gesicht bekommen würde, begannen die englischen Passagiere zu beratschlagen, wie man es einrichten könnte, ihn in seinem Haus aufzusuchen.
    »Alles Unsinn«, sagte Zadig wegwerfend. »Wenn ihnen keine Flügel wachsen, sodass sie fliegen können wie die Vögel, werden sie Napoleon nicht einmal von Weitem zu sehen bekommen.«
    Nach weiteren zwei Wochen tauchte St. Helena am Horizont auf. Schon aus der Entfernung war zu erkennen, dass die britische Marine außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte: Um die Insel herum patrouillierten so viele Schiffe, dass es aussah, als sollte hier demnächst eine bedeutende Seeschlacht ausgetragen werden.
    Der Anblick der Insel und der vielen Kriegsschiffe löste erneut helle Aufregung auf dem Quarterdeck aus.
    »Zu denken, dass hier das Monster lauert, das die ganze Welt in Aufruhr versetzt hat … «
    »… nach den Zeptern der erhabensten Reiche

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