Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Ausländern ist es streng verboten , durch eines der Stadttore zu gehen – und gerade deshalb möchte man unbedingt hinein! Nun ja … es gibt auch so mehr als genug zu sehen und zu malen, denn rings um die Stadtmauern liegen zahlreiche Vororte – die Zitadelle ist nur das Flaggschiff der Stadt Kanton, und um sie herum liegt eine Flottille kleinerer Schiffe vor Anker.
Du wirst das vielleicht nicht verstehen, liebste Paggli, aber der schönste Vorort von Kanton ist der Fluss selbst! In den schwimmenden Siedlungen der Stadt wohnen mehr Menschen als in ganz Kalkutta: eine runde Million , sagen manche! Ihre Boote sind an beiden Ufern vertäut, und es sind so viele, dass man das Wasser darunter nicht sieht. Anfangs kommt einem diese schwimmende Stadt vor wie eine riesiges Barackenlager aus Treibholz, Bambus und Dachstroh; die Boote liegen so dicht an dicht, dass man sie, wäre da nicht ein gelegentliches Schaukeln oder Zittern, für seltsam geformte Hütten halten könnte. Dem Ufer am nächsten befinden sich Reihen von Sampans, die meisten vier oder fünf Meter lang. Ihre Dächer sind aus Bambus, ihre Aufbauten einfach und zugleich unglaublich genial konstruiert, denn sie lassen sich dem Wetter anpassen. Wenn es regnet, werden die Abdeckungen so verstellt, dass sie das ganze Boot schützen, und an schönen Tagen werden sie zurückgerollt, sodass die Wohnbereiche Sonne bekommen – und es ist atemberaubend zu beobachten, was sich alles in und auf ihnen abspielt. Die Bewohner sind so beschäftigt , dass man geradezu von einem schwimmenden Bienenstock sprechen könnte. Auf dem einen Boot macht jemand Sojaquark, auf einem anderen werden Räucherstäbchen gefertigt, hier entstehen Nudeln, dort drüben wieder etwas anderes – und das alles inmitten einer gewaltigen Kakofonie aus Gackern, Grunzen und Bellen, denn jede der schwimmenden Manufakturen ist auch ein bäuerlicher Betrieb! Zwischen ihnen bleiben nur schmale Gässchen frei, gerade breit genug, um ein Werkstatt- oder Ladenboot durchzulassen. Davon gibt es mehr, als man für möglich halten würde; sie gehören fliegenden Händlern und Handwerkern jeder erdenklichen Art – Gerbern, Kesselflickern, Schneidern, Kupferschmieden, Schuhmachern, Barbieren, Knocheneinrichtern und dergleichen mehr, und alle preisen ihre Waren oder Dienste mit Glocken, Gongs und Rufen an.
Die Fanquis sagen, die schwimmende Stadt sei eine Brutstätte für Banditen, Tagediebe, Eckensteher, Strichjungen und allerlei Abschaum, aber ich muss gestehen, dass ich davon nur noch mehr Lust bekomme, sie zu erkunden. Sie ist so unglaublich pittoresk , dass ich es gar nicht erwarten kann, mich an ein paar nautischen Gemälden zu versuchen, vielleicht in der Manier von Ruisdael oder sogar Turner (obwohl Letzteres leider nicht infrage kommt, weil Mr. Chinnery vor Wut schäumt, wenn auch nur sein Name fällt).
Und nun also endlich zur Ausländerenklave – oder »Fanqui-Town«, wie ich sie inzwischen nenne! Sie liegt am äußersten Rand der Stadt, gleich hinter dem südwestlichen Stadttor. Vom Aussehen her ist Fanqui-Town ganz und gar nicht das, was man erwarten würde; es ist sogar so verschieden von dem, was ich mir vorgestellt hatte, dass mir schier die Luft wegblieb! Ich hatte mir gedacht, die Faktoreien seien hübsch mit typischen Merkmalen des chinesischen Baustils ausgestattet – aufgebogenen Dächern vielleicht oder pagodenähnlichen Türmen, wie sie auf chinesischen Gemälden unser Auge bezaubern. Aber wenn Du die Faktoreien selbst sehen könntest, liebste Paggli, würden sie Dich, das versichere ich Dir, eher an Bilder von sehr weit entfernten Orten erinnern – Vermeers Amsterdam oder sogar … Chinnerys Kalkutta. Du würdest eine Reihe von Gebäuden mit Säulen, Kapitellen, Pilastern, hohen Fenstern und Ziegeldächern sehen. Manche haben Säulenveranden mit denselben khus-khus-Matten, wie man sie aus Indien kennt. Wenn man nicht genau hinsieht, könnte man meinen, man ist in Kalkutta und hat die Lagerhäuser und daftars der großen englischen Handelshäuser vor sich. Die Farben sind jedoch ganz anders – heller und bunter. Aus der Ferne sehen die Faktoreien wie Farbstreifen vor den grauen Mauern der Zitadelle aus.
Die britische ist die größte der insgesamt dreizehn Faktoreien; sie hat eine Kapelle mit einem Glockenturm, und ihre Glocke schlägt ganz Fanqui-Town die Stunden. Außerdem hat sie vorn einen Garten und einen riesigen Fahnenmast. Auch vor manchen der anderen Faktoreien wehen
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