Der rauchblaue Fluss (German Edition)
große Lichtlawine ausgelöst haben. Ein Teil dieser Aura unterwarf sich dem Schöpfer und wurde mit ihm verschmolzen; der andere Teil wandte sich vom Licht ab und wurde von Ahura Mazda verbannt: Diese dunkle Macht erhielt den Namen ›angre-minyo‹ oder Ahriman – Teufel oder Satan. Seither haben die Mächte des Guten und des Lichts immer für Ahura Mazda gewirkt, die Mächte der Finsternis ihn jedoch bekämpft. Ziel jedes Zoroastriers ist es, sich das Gute zu eigen zu machen und sich vom Bösen loszusagen.«
Napoleon sah Bahram an und fragte Zadig: »Spricht er die Sprache Zarathustras?«
»Nein, Euer Majestät. Wie die meisten in seiner Stadt wuchs er nur mit Gujarati und Hindustani auf – Englisch hat er erst viel später gelernt. Die alte Sprache der Zend-Avesta ist heute Priestern und anderen Schriftgelehrten vorbehalten.«
»Und das Chinesische?«, fragte Napoleon. »Haben Sie beide, da Sie in diesem Land leben, versucht, sich mit dieser Sprache vertraut zu machen?«
Sie antworteten: Nein, sie sprächen kein Chinesisch, weil die gängige Handelssprache in Südchina eine Art Patois sei – oder »Pidgin«, wie manche es nannten, was lediglich so viel wie »Angelegenheit, Geschäft« bedeute, eine treffende Bezeichnung für einen Jargon, der sich besonders für die Abwicklung von Geschäften eigne. Obwohl viele Chinesen fließend Englisch sprächen, gebrauchten sie diese Sprache nicht für Verhandlungen, weil sie der Ansicht seien, das würde sie im Verhältnis zu den Europäern benachteiligen. Zum Pidgin hätten sie weit größeres Vertrauen, weil es die gleiche Grammatik habe wie das Kantonesische, obwohl die Wörter überwiegend dem Englischen, dem Portugiesischen und dem Hindustani entstammten. Aus diesem Grund seien alle gleichermaßen benachteiligt, was wiederum als sehr vorteilhaft für alle gelte. Außerdem sei es eine einfache, leicht zu erlernende Sprache, und für diejenigen, die sie nicht beherrschten, gebe es eine ganze Klasse von Dolmetschern und Übersetzern, die sowohl Englisch als auch Chinesisch ins Pidgin übertragen könnten.
»Und wenn Sie in Kanton sind«, fragte der General weiter, »dürfen Sie dann freien Umgang mit den Chinesen pflegen?«
»Ja, Euer Majestät, da gibt es keine Beschränkungen. Unsere wichtigsten Verhandlungen führen wir mit einer Gilde chinesischer Kaufleute. Sie nennt sich Cohong, und ihre Mitglieder tragen die alleinige Verantwortung für die Abwicklung von Geschäften mit Ausländern. Bei irgendwelchen Regelverletzungen sind sie es, die für das Verhalten ihrer ausländischen Kollegen geradestehen müssen, weshalb die Beziehung zwischen den chinesischen Kaufleuten und den anderen in gewisser Weise sehr eng ist, fast wie eine Partnerschaft. Es gibt aber noch eine zweite Gruppe von Mittelsmännern, die sogenannten Kompradoren; sie sind dafür zuständig, die ausländischen Kaufleute mit Vorräten und Personal zu versorgen. Außerdem obliegt ihnen der Unterhalt der Gebäude, in denen wir leben, der dreizehn Faktoreien.«
Zadig hatte die letzten drei Worte auf Englisch gesagt, und eines davon erregte die Aufmerksamkeit des Generals: »Ah! ›Faktorei‹. Ist das dasselbe Wort wie unsere ›factoreries‹?«
Das war ein Thema, das Zadig recherchiert hatte, und er war um eine Antwort nicht verlegen: »Nein, Euer Majestät. ›Faktorei‹ leitet sich von einem Wort her, das zuerst von den Venezianern und dann von den Portugiesen in Goa verwendet wurde. Es lautet ›feitoria‹ und bezeichnet lediglich einen Ort, an dem Agenten und Faktoren wohnen und Geschäfte machen. In Kanton werden die Faktoreien auch als ›Hongs‹ bezeichnet.«
»Sie haben also nichts mit Fabriken gemeinsam?«
»Nein, Euer Majestät, nichts. Die Faktoreien gehören genau genommen der Cohong-Gilde, obwohl Sie ihnen das nicht ansehen würden, denn viele von ihnen werden inzwischen mit bestimmten Nationen und Reichen gleichgesetzt. Manche hissen sogar ihre eigenen Flaggen – eine davon ist die französische Faktorei.«
Napoleon schritt weiter kräftig aus und warf Zadig einen Blick von der Seite zu: »Sind die Faktoreien demnach so etwas Ähnliches wie Botschaften?«
»Die Ausländer behandeln sie oft so, obwohl sie von den Chinesen nicht als solche anerkannt werden. Von Zeit zu Zeit ernennt Großbritannien tatsächlich Bevollmächtigte in Kanton, aber die Chinesen erkennen sie nicht an, und sie dürfen nur mit den Provinzbehörden Kontakt aufnehmen. Das ist kein leichtes Unterfangen,
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