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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Flaggen – die holländische, die dänische, die französische und die amerikanische. Diese Flaggen sind ungewöhnlich groß, und die Stangen sind unendlich hoch. Sie sehen aus wie gigantische, in die chinesische Erde gerammte Lanzen und erheben sich hoch über die Faktoreidächer, als müssten sie ganz sichergehen, dass die Mandarine innerhalb der Stadtmauern sie auch wirklich sehen.
    Wie Du Dir denken kannst, habe ich schon auf der Fähre überlegt, wie ich diese Szene malen könnte. Ich habe natürlich noch nicht angefangen, aber ich weiß, es wird eine große Herausforderung werden, vor allem hinsichtlich der Raumtiefe. Die Faktoreien haben so schmale Fassaden, dass man meinen könnte, es würde kein Dutzend Leute darin Platz finden. Doch hinter jeder Fassade liegt ein Labyrinth von Häusern, Höfen, Lagerräumen und Kontoren. Ein langer überwölbter Gang verbindet die Häuser und Höfe miteinander – nachts werden diese Passagen von Laternen erhellt und sehen dadurch aus wie Großstadtstraßen.
    Manche sagen, die Faktoreien seien gemäß der chinesischen Bauweise errichtet worden, in der die Mauern eines einzigen Anwesens beliebig viele Pavillons und Höfe umschließen können; andere hingegen fühlen sich eher an die Colleges von Oxford und Leiden erinnert, deren Gebäude in vielen miteinander verbundenen Rechtecken angeordnet sind. Wäre ich ein persischer Miniaturenmaler, würde ich die Fassaden en face abbilden und den ganzen Gebäudekomplex dahinter schräg von oben zeigen. Aber daran ist gar nicht zu denken, denn das wäre ein Skandal : Mr. Chinnery wäre entsetzt, und ich würde jahrelang Perspektivübungen machen müssen.
    Doch ich greife vor: Ich muss Dich ja erst noch zum Landungs-ghat von Fanqui-Town führen, das – ich schwöre es – »Jackass Point« heißt. Es unterscheidet sich jedoch in keiner Weise von unseren Landungs-ghats in Kalkutta: Es gibt keinen Pier, sondern nur eine Treppe, deren Stufen von der letzten Flut verschlammt sind (ja, meine liebste Pagglischwari, der Perlfluss steigt und fällt zweimal am Tag, wie unser Hugli!). Doch nicht einmal in Kalkutta habe ich je ein solches Durcheinander wie am Jackass Point erlebt: so viele Menschen, so viel Lärm, so viel Betrieb, so viele Kulis, die sich mit einem unglaublichen Tamtam darum balgen, Deine Koffer und Taschen zu tragen! Mir gelang es zum Glück, mit meinem Gepäck auf einen jungen Burschen mit einem gewinnenden Lächeln zuzusteuern, einen gewissen Ah Lei. (Warum so viele Ahs, könntest Du fragen, und nie irgendwelche Ohs? In den Straßen von Macao wirst Du auf zahllose junge Männer stoßen, die sich als »Ah Mann«, »Ah Gan« und so weiter ausgeben, und solltest Du jemals fragen, was das »Ah!« bedeutet, wird man Dir sagen, dass diese Vokabel im Kantonesischen, genau wie im Englischen, einzig und allein dem Zweck dient, sich zu räuspern. Doch nur, weil die Inhaber von »Ah« für gewöhnlich jung und arm sind, darfst Du nicht davon ausgehen, dass sie keinen richtigen Namen haben. In ihrer anderen Inkarnation können sie durchaus »Feuerspeiender Drache« oder »Unermüdlicher Hengst« heißen – ob zu Recht oder nicht, wissen nur ihre Frauen und Freunde.)
    Ah Lei war weder Drache noch Hengst – er war kaum halb so groß wie ich. Ich dachte, er würde unter meinem Gepäck zusammenbrechen, aber er lud sich im Handumdrehen alles auf den Rücken. »Was Platz woll?«, fragt er mich, und ich sage: »Markwick’s Hotel.« Und so betrat ich im Gefolge meines jungen Atlas den offenen Bereich zwischen den Faktoreien und dem Flussufer, der das Herzstück von Fanqui-Town bildet. Die Engländer nennen ihn den »Platz«, aber die Hindustanis haben einen besseren Namen dafür. Sie sprechen vom »Maidan«, und genau das ist es auch, eine Kreuzung, ein Treffpunkt, eine Piazza, eine Promenade, eine Bühne für ein nie endendes Theaterstück. Es ist eine Szenerie von solch unglaublicher Betriebsamkeit und Belebtheit , dass ich nicht hoffen kann, sie jemals auf Leinwand zu bannen. Wohin man auch blickt, sieht man höchst merkwürdige, einzigartige Dinge: Ein vielstimmiges ohrenbetäubendes Gezirpe kommt auf Dich zu, und mittendrin ein Mann mit Tausenden von Walnussschalen, die von Schulterstangen herabhängen; bei näherem Hinsehen entdeckst Du, dass aus jeder der Nussschalen ein zierlicher Käfig geschnitzt wurde – für eine Grille! Der Mann trägt Tausende dieser Insekten, und alle zirpen sie aus Leibeskräften. Kaum bist Du ein paar

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