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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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da drinnen einen Edelstein oder so etwas versteckt – er wird ihn jeden Moment rausholen und ihn mir als große Überraschung präsentieren. Aber nein! Er erzählt mir, sein Ururgroßvater habe ihn aus dem Tai Hu geholt, der für seine Steine berühmt ist. (Können Sie sich das vorstellen: Diese Chinesen haben auch für Steine berühmte Orte – so wie wir für ladu und mithai.) Aber nachdem der Stein in sein Haus gebracht worden war, befand der Ahne, dass das verdammte Ding noch nicht fertig sei. Sehen Sie, wie die denken? Gott hat diesen Stein vor Ewigkeiten geschaffen, aber das hat ihnen nicht gereicht. Was haben sie also getan? Sie haben ihn unter den Dachvorsprung ihres Hauses gestellt, sodass das Regenwasser auf ihn herabprasseln und Muster erzeugen konnte. Die Leute haben zu viel Zeit, hah? Nicht wie Sie und ich: Keiner macht jaldi-jaldi und chull-chull. Neunzig Jahre liegt der verdammte Stein unter dem Dach, dann kommt Chunqua zu dem Schluss, dass er endlich fertig ist, und bringt ihn mir als Begrüßungsgeschenk. Arré-baba, dachte ich bei mir, was soll ich mit diesem riesigen Steinbrocken anfangen? Aber ich kann das Geschenk unmöglich zurückweisen, denn dann wäre er gekränkt. Und ich kann es auch nicht mit nach Hause nehmen, sonst macht mir bibiji die Hölle heiß. ›Was?‹, wird sie sagen. ›Hast du in China nichts Besseres gefunden, dass du mir Stock und Stein mitbringst? Was für Unsinn lernst du dort eigentlich?‹ Also was blieb mir anderes übrig? Ich musste ihn hierlassen.«
    Der Stein war nicht der einzige Gegenstand in dem Büro, der eine besondere Bedeutung für den Seth hatte: Sein Sekretär gehörte auch dazu. Er war unbestreitbar ein besonders schönes Möbelstück aus rötlichem Padoukholz mit glänzenden Pakfong-Beschlägen. Öffnete man die Türen, kam eine Doppelreihe bogenförmiger Ablagefächer zum Vorschein, voneinander getrennt durch Säulen, die vergoldeten Buchrücken glichen. Unter der Schreibplatte befanden sich neun robuste Schubladen mit Messinggriff und Schlüsselloch.
    Die Schlüssel zu dem Sekretär hatte Bahram selbst in Verwahrung, bis auf den größten, mit dem man die Türen aufschließen konnte – von diesem hatte auch Nil ein Exemplar, denn es oblag ihm, morgens den Sekretär aufzuschließen und ihn mit Bahrams bevorzugten Schreibutensilien zu bestücken. Die Gänsekiele, für die der Seth eine unverhohlene Vorliebe hegte, waren nicht schwer zu beschaffen, Tinte dagegen schon, denn Bahram gab sich nicht mit gewöhnlicher Qualität zufrieden. Während seiner Aufenthalte in Kanton bestand er darauf, stets einen fein geschliffenen, kunstvoll verzierten Reibstein, zwei erstklassige Tuschestangen und einen kleinen Topf mit speziellem »Quellwasser« auf der Schreibplatte zu haben, um im Bedarfsfall seine eigene Tusche anreiben zu können, in der geduldigen, meditativen Art eines chinesischen Gelehrten. Angesichts von Bahrams unruhigem Wesen war das ein recht überheblicher Anspruch, aber nichtsdestotrotz – die Gerätschaften zum Anreiben der Tusche mussten wie die Federkiele jeden Tag genau an derselben Stelle liegen, in der linken oberen Ecke der Schreibplatte. Ironischerweise wurden weder der Sekretär noch die Schreibutensilien oft in Gebrauch genommen, denn Bahram setzte sich in seinem daftar nur selten hin; zumeist ging er, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, auf und ab, und selbst wenn er ein Dokument unterzeichnen musste, tat er es normalerweise im Stehen am Fenster, mit einem von Nils abgenutzten Federkielen.
    Nur beim Frühstück machte Bahram ausgiebigen Gebrauch von einem Stuhl. Diese Mahlzeit wurde regelrecht zelebriert, nach einem durch viele Jahre hindurch vervollkommneten System. Verantwortlich war Mesto, der Koch, und angerichtet wurde nicht in Bahrams privatem Speisezimmer, sondern auf einem Marmortisch in einer Ecke des daftars. Kurz bevor der Seth das Büro betrat, breitete Mesto eine seidene Decke über den Tisch. Wenn Bahram Platz genommen hatte, stellte Mesto ein Gedeck aus kleinen Tellern und Schalen vor ihn hin, und diese enthielten beispielsweise etwas akuri – Rühreier mit Korianderblättern, grünen Chilischoten und Frühlingszwiebeln – , einige shu-mai-Klößchen, gefüllt mit Hühnerhackfleisch und Pilzen, dazu vielleicht auch zwei Scheiben Toast und einige Satay-Spieße und eventuell eine kleine Portion mit geklärter Butter abgeschmeckten Madras-Congee und eine kleine Schüssel kheemo kaleji – fein gehacktes Hammelfleisch

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