Der rauchblaue Fluss (German Edition)
verlassen, hätten sich ihre Wege niemals gekreuzt, und nur wenige von ihnen hätten jemals miteinander gesprochen oder gar miteinander gegessen. Zu Hause wäre es ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass sie viel gemeinsam haben könnten – doch hier war es ihnen, ob sie wollten oder nicht, unmöglich, sich diesen Gemeinsamkeiten zu entziehen; jedes Mal, wenn sie aus der Haustür traten, wurden sie auf dem Maidan mit Worten begrüßt, die ihnen geradezu aufgedrängt wurden: »Achha! Achha?«
Es hätte keinen Zweck gehabt, sich dagegen zu verwahren, mit so vielen in einen Topf geworfen zu werden: Den Straßenjungen war es egal, ob man ein Moslem aus Belutschistan, ein Katholik aus Goa oder ein Parse aus Bombay war. Lag es möglicherweise am Aussehen? An den Kleidern? Oder am Klang der Sprachen (doch wie das, da sie doch so verschieden sind)? Oder war es womöglich nur ein Geruch nach Gewürzen, der an allen haftete? Wie auch immer, irgendwann fand man sich damit ab, dass es etwas gab, was einen mit den anderen Achhas verband: Das war einfach eine unausweichliche Tatsache, und der konnte man sich so wenig entziehen, wie man seine Haut abwerfen und sich eine neue überstreifen konnte. Und es war seltsam: Hatte man das einmal akzeptiert, wurde sie Wirklichkeit, diese rätselhafte Gemeinsamkeit, die eigentlich nur in den Augen der Straßenjungen des Maidan existierte, und man erkannte, dass jeder einen Anteil daran hatte, wie alle zusammen wahrgenommen und behandelt wurden. Und je länger man unter diesem Dach wohnte, mit dem Maidan vor der Tür, desto stärker wurden die Bindungen – denn das Paradoxe war, dass diese Bindungen nicht durch ein Übermaß an Eigennutz oder Selbstachtung zustande kamen, sondern aus einem Gefühl geteilter Scham. Und zwar, weil jeder wusste, dass fast das gesamte Opium, das nach Kanton gelangte, von den heimatlichen Gestaden aus verschifft wurde; und es wusste ebenfalls jeder, dass er selbst zwar nur einen winzigen Anteil an dem Reichtum hatte, der aus dem Opium erwuchs, dass ihm sein Gestank aber stärker anhaftete als jedem anderen Ausländer.
Der vertraute Klang der Glocke im Turm der Kapelle war für Bahram genauso beruhigend wie der Blick aus dem Fenster seines daftars: Wenn er auf den Maidan hinausschaute, sah er dieselbe Szene wie eh und je – Gruppen von Schleppern, die ausschwärmten, um Kunden für die Schnapsbuden in der Hog Lane zu suchen, Matrosen und Laskaren, die über den Landungs-ghat auf Jackass Point in die Stadt strömten, fest entschlossen, ihren Landurlaub, so gut es ging, auszukosten, Gruppen von Bettlern unter den Bäumen und an den Eingängen zu den Gassen, die mit ihren Rasseln schepperten, Gepäckträger, die zwischen den Lagerräumen und den Lastkähnen hin und her liefen, Barbiere, die an ihren Stammplätzen unter Sonnendächern aus Bambusmatten Stirnen rasierten und Zöpfe flochten.
Doch trotz aller scheinbaren Normalität war es Bahram von dem Moment an, als er die Einfahrt in den Perlfluss passiert hatte, klar gewesen, dass sich die Verhältnisse in China tatsächlich gewandelt hatten. Früher hätte er die Anahita vor Lintin Island, an der Mündung des Flusses, verlassen. Dorthin fuhren die Frachtschiffe immer nach der Überfahrt von Indien. Doch diesmal war bei der Insel kein einziges Schiff zu sehen, nur zwei alte Hulke, die als Lager dienten, die eine amerikanisch, die andere britisch. In den vergangenen Jahren war das Opium aus diesen mastlosen Schiffen von Schnellruderern weggeschafft worden. Diese schlanken, von sechzig Rudern im Takt angetriebenen Fahrzeuge durchs Wasser schießen zu sehen war einmal einer der faszinierendsten Anblicke auf dem Perlfluss gewesen. Jetzt war kein einziger Schnellruderer mehr irgendwo im Mündungsgebiet zu sehen. Die Hulke, auf deren Decks früher reges Getriebe geherrscht hatte, waren verlassen und scheinbar drauf und dran zu kentern.
Da er vorgewarnt worden war, hatte Bahram vor Hongkong die Anahita verlassen, die in der schmalen Meerenge zwischen der Insel und der Halbinsel Kowloon ankerte. Auch das wäre in der Vergangenheit unvorstellbar gewesen, denn die Schiffe hatten diese Fahrrinne aus Angst vor Piraten fast immer gemieden. In diesem Jahr lag dort jedoch die gesamte Opiumflotte, und so bestand zumindest die tröstliche Gewissheit, dass man sich gegenseitig schützen konnte.
Die Situation an der Flussmündung ließ Bahram zuerst vermuten, dass sich auch Kanton einschneidend verändert hatte, doch dann stellte
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