Der rauchblaue Fluss (German Edition)
mit Leber. Und so weiter.
Den Abschluss von Bahrams Frühstück bildete stets ein Getränk, das Mesto als seine eigene Erfindung ausgab. Es wurde mit Teeblättern zubereitet, hatte aber keine Ähnlichkeit mit dem chàh, der üblicherweise in Kanton serviert wurde; chinesische Besucher im Achha Hong fanden seinen Geruch derart abscheulich, dass zwei von ihnen sich sogar einmal übergeben hatten. (»Sehen Sie sich das an«, hatte Vico abfällig gesagt, »die essen ohne mit der Wimper zu zucken Schlangen und Skorpione, aber Milch kriegen sie nicht runter.«)
Mesto bereitete das Getränk zwar zu, doch die Zutaten musste Vico besorgen – und das war keine Kleinigkeit, denn der wichtigste Bestandteil war Milch, und die war in Kanton schwerer zu bekommen als Myrrhe oder Kirschpflaumen. Die wichtigste Bezugsquelle der Ausländerenklave waren ein paar Kühe, die dem dänischen Hong gehörten; da viele der europäischen Kaufleute auch nicht auf Sahne, Butter und Käse verzichten wollten, war die gesamte Produktion der dänischen Kühe verkauft, sobald sie in den Melkeimern schäumte. Doch der unermüdliche Vico hatte einen anderen Lieferanten ausfindig gemacht: Am jenseitigen Flussufer, direkt gegenüber der Ausländerenklave, auf der Insel Honam, lag ein riesiges buddhistisches Kloster, in dem auch ein ansehnliches Kontingent tibetanischer Mönche lebte. Da sie Buttertee und andere Speisen, für die man Milch brauchte, gewohnt waren, hielten die Tibeter sich als Ersatz für Yaks eine kleine Büffelherde. Diese Tiere lieferten die Milch für Mestos Getränk. Er kochte sie mit Boheablättern und einer Prise Nelken, Zimt und Sternanis; abgerundet wurde die Komposition mit einigen Handvoll chini, dem raffinierten chinesischen Zucker, der seit einiger Zeit in Bombay so beliebt war. Das fertige Gebräu hieß »chai« oder »chai-garam« (wobei letzterer Name sich auf die verwendete Gewürzmischung garam masala bezog). Bahram kam ohne dieses Getränk nicht aus, und man brachte ihm den ganzen Tag über in regelmäßigen Abständen einen großen Becher davon.
Chai war nicht nur für Bahram, sondern den ganzen Achha Hong das liebste Getränk, und jedermann in Bahrams Umgebung horchte auf die Straßenhändler, die regelmäßig vorbeikamen und »chai-garam, chai-garam« riefen. Besonders sehnlich erwartet wurde der vormittägliche Becher chai, der für gewöhnlich mit einem Imbiss serviert wurde. Dabei handelte es sich meist um eine uigurische Spezialität mit dem Namen Samsa – kleine, dreieckige Teigtaschen, meist mit Hackfleisch gefüllt und in einem tragbaren tandur gebacken, die auf dem Maidan warm verkauft wurden. Da sie die Vorform eines beliebten indischen Gebäcks waren, wurden sie im Achha Hong mit Genuss verzehrt und mit ihrem vertrauten hindustanischen Namen samosa bezeichnet.
Wie jedermann im Achha Hong freute sich auch Nil schon bald auf seine vormittäglichen samosas und seinen chai-garam. Doch für ihn war der Klang dieser fremdartigen Wörter genauso köstlich wie das, was sie bezeichneten. Von den Menschen in Bahrams Umgebung lernte er ständig neue Wörter. Manche, wie »chai«, stammten aus dem Kantonesischen, während andere von Vico aus dem Portugiesischen beigesteuert wurden – beispielsweise »falto«, das so viel wie »falsch« oder »betrügerisch« bedeutete und sich auf Achha-Zungen in »phaltu« verwandelte.
Noch während er sich einlebte, wurde Nil klar, dass Fungtai Hong Nr. 1 eine Welt für sich war, mit ihren eigenen Speisen und Wörtern, Ritualen und Routinen: Es war, als seien die Bewohner die ersten Siedler in einem neuen Land, einem noch nicht existierenden Achha-stan. Und mehr noch: Sie alle, vom kleinsten Putzmann bis zum penibelsten Geldprüfer, waren in gewisser Weise stolz auf ihr Haus, ähnlich wie die Mitglieder einer Familie. Das verwunderte Nil zunächst, denn auf den ersten Blick mutete der Gedanke, die Achhas könnten so etwas wie eine Familie sein, nicht nur seltsam, sondern geradezu absurd an. Sie waren eine kunterbunte Ansammlung von Männern aus allen möglichen Teilen des indischen Subkontinents und sprachen mindestens ein Dutzend verschiedene Sprachen. Manche kamen aus Gebieten unter britischer oder portugiesischer Herrschaft, andere aus Staaten, die von Nawabs oder Nizams, Rajas oder Rawals regiert wurden; unter ihnen gab es Moslems, Christen, Hindus, Parsen und auch einige, die zu Hause von der Gesellschaft ausgeschlossen gewesen wären. Hätten sie nicht den Subkontinent
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