Der rauchblaue Fluss (German Edition)
er erleichtert fest, dass in Fanqui-Town mehr oder weniger alles beim Alten war. Erst als sein Blick jetzt zu den schwimmenden Stadtteilen auf dem Perlfluss wanderte, wurde er daran erinnert, dass die Stadt in einem wichtigen Punkt doch unwiderruflich anders geworden war, zumindest was ihn selbst betraf. Aus alter Gewohnheit ging sein Blick geradewegs zu der Stelle, wo Chi-meis Boot immer gelegen hatte, nämlich etwas abseits auf der rechten Seite, wo der Perlfluss sich mit dem Nordfluss zu dem großen White Swan Lake vereinigte. Über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg war es Chi-mei irgendwie gelungen, sich an diesem Liegeplatz zu behaupten, obwohl sie mehrere Male das Boot gewechselt hatte. In den ersten Jahren, als ihr Küchenboot noch unansehnlich und von recht bescheidener Größe war, hatte Bahram Mühe gehabt, es unter den Hunderten von Booten auszumachen, die längs des Ufers vertäut waren. Doch im Lauf der Zeit waren Chi-meis Boote größer geworden, und das letzte war so auffällig gewesen, dass er es ohne Weiteres vom Fenster seines daftars aus erkennen konnte. Es war bunt gestrichen und hatte zwei Decks und ein Heck wie ein aufgebogener Fischschwanz. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, danach zu suchen, sobald er ans Fenster trat: Wenn Rauch davon aufstieg, wusste er, dass Chi-mei ihre Öfen angezündet und ihr Tagwerk begonnen hatte – es war, als wäre der Rhythmus dieses Bootes ein geheimnisvoller, doch notwendiger Kontrapunkt zu dem seines daftars geworden.
Bei der Ankunft in Kanton hatte Bahram halb gehofft und halb erwartet, Chi-meis Boot an dem gewohnten Platz zu finden; in gewissem Sinn war es auch sein Eigentum, da er ja einen guten Teil davon bezahlt hatte; nun hätte er es gern selbst verkauft.
Die Sache hatte ihn auf der letzten Etappe der Reise, von Whampoa nach Kanton, immer wieder beschäftigt, und er hatte vorgehabt, bei erster Gelegenheit mit seinem Komprador Chunqua darüber zu sprechen. Doch als er in Jackass Point ankam, war Chunquas vertrautes Gesicht nirgends zu sehen: Bahram und seine Begleitung wurden stattdessen von einem von Chunquas Söhnen empfangen, der den Namen Tinqua trug. Von ihm erfuhr Bahram, dass sein alter Komprador vor einigen Monaten nach langer Krankheit gestorben war – und wie es der Brauch war, hatten seine Söhne die Klienten ihres Vaters geerbt.
Bahram war erschüttert. Chunqua war lange Zeit sein Komprador gewesen; sie hatten ihre Zusammenarbeit begonnen, als sie beide in ihren Zwanzigern waren, und sie hatten einander in den Wohlstand und in die mittleren Jahre begleitet. Die Bande der Zuneigung und des Vertrauens zwischen ihnen waren sehr fest. Beide kannten die Familie des anderen, und wenn Bahram nicht in Kanton war, kümmerte sich Chunqua um Chi-mei und Freddy. Er begleitete das Heranwachsen des Jungen mit väterlichem Blick, und durch ihn schickte Bahram den beiden Geld und Geschenke.
Mit Chunquas Tod riss noch eine weitere von Bahrams Verbindungen mit Kanton ab: Er kannte die Söhne seines Kompradors seit ihrer Kindheit, konnte sich aber nicht vorstellen, dass einer von ihnen den Platz ihres Vaters würde einnehmen können – am allerwenigsten Tinqua, der ein oberflächlicher junger Mann war und sich kaum für seine Arbeit interessierte. Als Bahram ihn nach Chi-meis Boot fragte, erwiderte er obenhin, es sei verkauft worden, an wen, wisse er nicht.
Jedes Mal, wenn Bahram jetzt ans Fenster trat, suchte sein Blick unwillkürlich die Stelle, wo früher das Boot vertäut gewesen war – und wenn er sie nicht fand, versetzte es ihm einen so schmerzhaften Stich, dass er zusammenzuckte.
Es war seltsam, dass das Fehlen eines einzigen Bootes eine Lücke in einer so überfüllten Landschaft hinterlassen konnte.
Der andere Pol in Bahrams Leben in Fanqui-Town war von seinem Fenster aus nicht zu sehen: die Kantoner Handelskammer, die ihren Sitz auf dem Gelände der dänischen Faktorei hatte.
Die Handelskammer war eine wichtigere Körperschaft, als ihr Name vermuten ließ: Sie vertrat nicht nur die Kaufleute der Ausländerenklave und unterwarf sie bestimmten Regeln, sondern steuerte auch den Herzschlag des regen gesellschaftlichen Lebens von Fanqui-Town. Viele der ausländischen Kaufleute in Kanton hatten eine Zeit lang in Indien gelebt und waren an Annehmlichkeiten gewöhnt, wie sie beispielsweise der Byculla Klub und der Bengal Klub boten. Da es in Kanton keine vergleichbare Einrichtung gab, hatte die Handelskammer nolens volens diese Funktionen
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