Der Rauchsalon
Rock’-n’-Roll-Schallplatten, und
wartete mit dem Rücken zur Straße. Und tatsächlich, gerade als der
Geschäftsinhaber sich bereits Hoffnungen auf einen neuen Kunden machte,
spiegelten sich zwei rote Turnschuhe und eine Tragetasche aus einem Geschäft,
das längst nicht mehr existierte, im Schaufenster. Sarah wartete genau drei
Sekunden und folgte ihr dann.
Die meisten Gebäude in der Tremont
Street sind so saniert worden, daß sie mit ihrem ursprünglichen
Erscheinungsbild überhaupt nichts mehr gemeinsam haben. Doch hinter den
aufgetakelten Fassaden sind einige Häuser beinahe unverändert geblieben.
Versteckt zwischen den protzigen Schaufenstern befinden sich noch bescheidene
Eingänge, die in winzigkleine Eingangshallen führen, in denen es Aufzüge gibt,
die man selbst bedienen muß, und in denen eine Tafel mit den Namen der Bewohner
und ihrer Profession eine kuriose Mischung von Berufen anzeigen: Optometriker,
Kürschner, Perückenmacher, Juweliere, Friseure. Einige sind so bekannt, daß sie
es nicht nötig haben, in feinere Geschäfte umzuziehen, dann gibt es Leute, die
sich die Miete anderswo nicht leisten können, und Mieter, die nur deshalb dort
sind, weil sie irgendwo arbeiten müssen, die Lage günstig ist und ihnen die
Aussicht auf die Grünanlage gefällt. In einem dieser Eingänge verschwand jetzt
Mrs. Sorpende.
Sarah verlor beinahe allen Mut. Sie
würde im Aufzug nach oben fahren, und damit war die Sache erledigt. Aber Mrs.
Sorpende fuhr nicht im Aufzug nach oben. Als Sarah verwegen die Tür öffnete,
sah sie die roten Turnschuhe in einem Treppenhaus auf einer filigranen Treppenkonstruktion
aus Gußeisen verschwinden, die noch um vieles älter sein mußte als der Aufzug.
Da Sarah nun so weit gekommen war,
wollte sie auf keinen Fall aufgeben. Sie folgte den Turnschuhen und erwartete,
daß sie im ersten Stock anhalten würden, aber dies stellte sich als Irrtum
heraus. Das Treppenhaus war im soliden spätviktorianischen Stil gebaut, und die
Turnschuhe machten auf den abgenutzten Marmorstufen keinerlei Geräusch. Aber
die knisternde Papiertragetasche, die immer wieder gegen das Geländer stieß,
gab ihr einen Anhaltspunkt, wo Mrs. Sorpende sich befand, und ermöglichte ihr
die Verfolgung, ohne gesehen zu werden. Sie befand sich auf dem dritten
Treppenabsatz, als sie hörte, wie die Tür unmittelbar über ihr aufgeschlossen,
geöffnet und wieder verschlossen wurde. Sarah drehte sich um und ging denselben
Weg wieder zurück, wobei sie sich reichlich schwindlig fühlte. Wenn das zu Mrs.
Sorpendes täglicher Routine gehörte, war es nicht weiter verwunderlich, daß sie
immer so federnd die Treppe zu ihrem Schlafzimmer im zweiten Stock hinauflief.
In der Eingangshalle studierte Sarah
die Tafel mit den Namen der Bewohner. Im dritten Stock gab es lediglich ein
Dentallabor, einen Laden für Porzellanmalerei und — aha! — eine Teestube, in
der man etwas über seine Zukunft erfahren konnte. Sarah hatte schon viel über
diese Teestuben gehört. Cousine Mabel fand sie einfach faszinierend. Einige
waren urgemütlich und schon so lange Teil der Bostoner Innenstadt, daß sie
inzwischen richtige Wahrzeichen geworden waren. Andere waren weniger
erfolgreich und verschwanden so schnell wieder, daß man sich fragen mußte,
warum die Eigentümer, die so gewandt ihren Kunden die Zukunft voraussagten,
sich nicht erst einmal ihre eigene angesehen hatten, bevor sie das Geld für die
Miete investiert hatten. Über diese Teestube hatte Sarah noch nichts gehört,
aber sie konnte sich gut vorstellen, was sie erwartete: billige Plastikstühle
und — tische, winzigkleine Sandwiches, eine Tasse bitteren Tee, halbvoll mit
Teeblättern, und ein drei Dollar teures Gespräch mit irgendeiner ernsthaften
Person, die schon seit frühester Kindheit erstaunliche übersinnliche Kräfte
gezeigt hatte. Vielleicht war Mrs. Sorpende genauso süchtig nach Wahrsagerei
wie Cousine Mabel — aber warum trug sie eine so unvorteilhafte Verkleidung, nur
um sich in den Teeblättern lesen zu lassen?
Sarah ließ den Aufzug kommen, stieg in
der dritten Etage aus und stellte mit einem Blick fest, daß Mrs. Sorpendes
heimliches Doppelleben auf keinen Fall etwas mit der Porzellanmalerei zu tun
hatte. In dem winzigen Laden befand sich lediglich eine relativ junge Frau mit
einem Kittel voller Farbflecke. Sie kam dienstfertig auf sie zu.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich wollte mich nur — umsehen«,
stammelte Sarah. »Ich bin selbst ein
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