Der Rebell - Schattengrenzen #2
Oliver erleichtert auf. Eine Familie, also nicht Rudolph und Helene. Unfair diesen Menschen gegenüber, aber es tat gut, dass sie nicht Teil seiner Familie waren. Andererseits – warum starrte Matthias ihn an? Instinktiv verspannte er sich wieder.
Daniel sah von seinem Papierwust auf. »Was schockt dich so, Matthias?«
»Diese Menschen sind auf verschiedene Weise miteinander verwandt.« Er rieb sich den Unterkiefer. »Mal schauen, ob ich das so gut zusammenbekommen wie sie.«
Mit wenigen Strichen zeichnete er eine Art Stammbaum auf, bei dem es ein Elternpaar und mehrere Kinder gab, allerdings auch Verzweigungen, die Oliver nicht begriff.
Matthias wies auf die Symbole für Frau und Mann, die oben standen. »Diese beiden hatten offenbar zwei gemeinsame Kinder. Das waren die etwas älteren Kinderleichen, die ihr gefunden habt.« Mit seinem Kuli tippte er auf die erste, außenstehende Person, deren Symbol männlich war. »Das hier ist wahrscheinlich der Bruder der Frau. Die genetische Übereinstimmung der beiden ist so exakt im maternalen Bereich, dass sie Geschwister sein müssen.« Er fuhr mit der Kugelschreiberspitze zu der anderen außenstehenden Person. »Die Mutter der beiden kleinen Kinder hier, hatte offenbar eine erwachsene oder zumindest ältere Tochter mit einem anderen Mann.«
Oliver glaubte fast, zu ersticken. Das waren Helene, Rudolph und ihre Kinder. Kaltes Grauen breitete sich in ihm aus. Plötzlich fror er erbärmlich. »Rachel.« Seine Stimme brach.
Was bedeutete der von Rachel ausgehende Strich nach unten, der in einem Symbol für weiblich endete? »War Rachel mit ihren achtzehn Jahren etwa bereits Mutter gewesen?«
Matthias nagte nervös an seiner Lippe. Schließlich wies er auf die Zeichnung. »Das jüngste Opfer war ein kleines Mädchen.« Er nickte zu Oliver. »Du dürftest mit deiner Einschätzung richtig liegen. Rachel hatte eine Tochter.«
Er neigte sich vor. »Und nun rate, wer der Vater ist.«
Oliver presste die Kiefer aufeinander. Die Antwort lag auf der Hand. Isolde und Tristan, das Synonym für ihre verbotene Liebe.
Rachel und Walter.
Amman
O liver saß auf den Stufen vor dem Eingang. Bleiern glitten die Wolken über der Stadt. Der kalte Wind trieb sie mühsam voran. Es ging auf Abend zu, aber es gab in der beständigen Dämmerung kaum noch einen Unterschied zum Tag.
Zwischen seinen Beinen hockte Michael, der sich eng an ihn drängte. Seine bis zum Hals geschlossene Jacke beulte sich aus, als ob er hochschwanger sei. Nur zwei lange, braunpelzige Löffel hoben sich rechts und links neben Michas Gesicht aus dem Kragen. Opa wollte unbedingt mit nach draußen. Sie würde nicht abhauen.
Mit einer Hand suchte Oliver nach dem zerdrückten Zigarettenpäckchen in seiner Beintasche. In den ganzen letzten Monaten hatte er keine Einzige gebraucht. Nun erwachte wieder das brennende Verlangen. Zumindest wusste er, dass er noch welche hatte. Er räumte sie schließlich seit Längerem von einer Hose in die nächste.
Als er es hervorzog und den Deckel öffnete, wogte eine Wolke schalen Tabakdufts aus dem Aluminium. Das Filterpapier hatte auch bessere Tage erlebt. Aber bis auf die Tatsache, dass der Glimmstängel einfach nur alt und platt war, ließ er sich noch rauchen.
Micha kniff ihm in die Innenseite seines Oberschenkels. Warum immer an Stellen, wo er sich gern streicheln ließ?
»Das ist nicht gerade angenehm, Micha.«
»Muss das sein?«
Oliver schob den Filter zwischen seine Lippen. »Im Moment schon.«
Ohne weitere Erklärung fischte er das Feuerzeug aus der Packung und zündete sich die Zigarette an.
Der erste Zug schmeckte schal, nach alten Socken. Die Kippen besaßen kein Aroma mehr. Aber zumindest sengte der heiße Rauch in seiner Kehle und raute sie auf. Nicht dass es sich angenehm anfühlte, trotzdem brach der Kokon aus wirren Emotionen auf. Kochend flutete die Masse aufgestauter, unterdrückter Gefühle jeden noch so kleinen Winkel. Schrecken, aber auch Erleichterung brachen sich Bahn.
Er stieß den Rauch aus. Mit einem Arm umschlang er Micha, während er seine Wange in dessen Haar schmiegte.
Achtlos schnippte er die Asche von der Zigarettenspitze.
»Wie geht es dir, Olli?« Sorge schwang in seiner Stimme.
»Entsetzt, verstört, schockiert … alles zusammen.« »Zumindest habe ich euch. Ihr seid mein Anker in diesem Irrsinn.«
Micha schwieg, wobei er sich eng in seinen Arm kuschelte. Aus Olivers Perspektive wirkte der Kleine nachdenklich, abwesend. Sein
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