Der Rebell - Schattengrenzen #2
wieder normalisierten. Neue Schule, neue Freunde … und vor allem ein knappes Jahr Unterricht nachholen.
Scheiße!
Schlimmer noch. Die schwache Hoffnung auf ein Leben mit Chris und Micha hatte sich aufgelöst.
Warum konnte Amman nicht wahr machen, wovon er immer faselte? Ihr seid wie meine eigenen Kinder. Mein Heim ist euer Heim. Ihr seid immer willkommen.
Bullshit! Dann kam er überaus selten und mit einer solchen Leidensmiene vorbei, dass Oliver davon schlecht wurde. Wahrscheinlich lag es aber auch mit an Kerstin. Wer wollte schon gern die Kinder der Frau um sich haben, mit der ihr Mann sie betrogen hatte?
Wenn Amman seine Familie liebte, würde er sie kaum aufnehmen können.
Er stützte sich am Waschbeckenrand ab. Keine Familie mehr. Ein Stich sengte durch seinen Körper. Das musste die Hölle sein – nein, das war einfach nur die Realität.
Er drehte den Hahn auf und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis seine Kiefermuskeln steif waren und stachen. Er hob den Blick. Aus dem verspritzten Spiegel starrte ihm ein beinahe fremdes Gesicht entgegen. Dunkle Ringe unter tief liegenden Augen, ein kantiges Gesicht, dem das Alter fehlte, volle, aber fahle Lippen … Was war er? Noch ein Teenager oder bereits ein Mann? Schwer zu sagen. Er wusste es nicht. Die Kindheit war fort, nachhaltig. Obwohl ein schwacher Bartschatten vorhanden war, lag darin nicht die Ahnung eines Teenagers. Alterslos, bizarr. Über seinen Hals zogen sich die Narben der Stiche.
Ein Wunder, dass er lebte.
Wunder? Nein, Zufall. Laut den Ärzten war er nicht lang genug tot gewesen, um ihn nicht zurückzuholen. Reanimiert, notoperiert, gestorben, zurückgeholt. Wie oft hatten sie dieses Spielchen getrieben? Angeblich hatte sein Herz dreimal in Folge aufgehört zu schlagen.
Das waren die Erinnerungen, die er lieber begrub. Die Welt hinter den Spiegeln, in der Elli keine Augen hatte und Marc ein Monster war.
Eine Welle der Übelkeit zog seinen Magen zusammen. Er konnte gerade noch den Toilettendeckel heben, um sich nicht auf den Boden zu übergeben.
Nachdem er sich gereinigt hatte, musterte er sich erneut im Spiegel. Seine Haut wirkte rau, spröde und vollkommen grau.
Zu den Narben, die im Kragen seines schwarzen Alarmsignal-T-Shirts verschwanden, fühlte er sich nicht nur wie ein Zombie, er sah auch nicht nennenswert besser aus. Er streifte sein durchgeweichtes Hemd über den Kopf und hängte es zum Trocknen über die Handtuchstange. Noch immer erschrak er vor den Narben auf Schultern und Rücken. Sie gingen tief. Das Messer hatte seine Knochen durchdrungen. Was war von Oliver Hoffmann noch übrig?
Rasch holte er sich ein anderes Shirt. Solange er sein Hemd trug, sah man die Narben nicht. Aber er spürte sie.
Trotz des Trainings würde er sicher nie mehr der werden, der er war. Das, was ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte, war ein anderer. Einfach nur ein Freak.
Umso besser passte der Spruch auf seiner Brust: No Justice, No Peace .
Er schüttelte den Kopf. Die hellen Locken fielen ihm ins Gesicht, über Schultern, Brust und Bauch. Von der blauen und grünen Farbe blieb nicht einmal mehr eine Erinnerung zurück … Erinnerung? Eine Erinnerung an die Vergangenheit? Für einen Moment spürte er wieder die Hand in seinen Haaren, das Messer, das in ihn drang.
Ab damit! Oliver griff nach der Nagelschere, die auf der Ablage lag. Schon an der ersten Strähne glitt sie ab.
Nein, das war lächerlich. So wurde das nichts. Aber er hatte nichts anderes. Ärger ballte sich in seinem Magen. Er warf die Schere zurück. Sie prallte an der Wand ab und fiel zu Boden.
Langsam sah er sich im Raum um. Hier gab es nichts.
Ärgerlich band er einen Zopf zusammen und putzte sich die Zähne. Nach und nach beruhigte er sich wieder.
Welcher Tag war eigentlich? Innerhalb der letzten Monate war ihm jedes Zeitgefühl abhandengekommen. Schule und Verpflichtungen fehlten.
Das orange-blaue uralte Handy, das ihm Daniel mitgebracht hatte, lag auf dem Nachttisch. Er schaute auf das Display.
Ach ja, Freitag. Freitag? Sollte er nicht heute entlassen werden? Seine Kehle schnürte sich zu. Ja, heute war der Tag. Wahrscheinlich würde Frau Richter jetzt noch ein letztes Mal alle Geschütze auffahren, damit er sich öffnete.
Ihr gegenüber war es fast unmöglich zu sprechen, besonders von dem, was in ihm vorging – oder der Erscheinung.
Das Handy vibrierte, während der polyfone Sound von »Eye of the Tiger« erklang. Erschrocken starrte Oliver das
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