Der Regen in deinem Zimmer - Roman
gekränkt und ratloser denn je den Motor. Ganz wohl ist mir nicht dabei, ihn einfach hier sitzen zu lassen, aber was soll ich mit einem machen, der mich nach einer Weile noch nicht mal mehr sieht?
Ehe ich nach Hause fahre, mache ich noch einen Abstecher ans Meer und versuche, in den vergangenen Stunden einen Sinn zu erkennen. Tagelang passiert nichts, und dann ist man plötzlich mit einem unterwegs, von dem man noch nicht mal weiß, wer er ist, und zu allem Überfluss knutscht man auch noch rum. Wenn ich mir alle Etappen dieser Geschichte vor Augen führe, sehe ich nur ein einziges großes Durcheinander. Hätte ich ihn bloß nicht geküsst, dann wäre ich jetzt nicht so durch den Wind. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Es ist so schwer, alles irgendwie unter einen Hut zu bringen, die eigenen Empfindungen und das, was man von den Menschen mitgekriegt zu haben meint. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll, was ich brauche. Zumindest in dem Punkt hat Gabriele recht.
Als ich nach Hause komme, ist das Mittagessen schon fertig. Obwohl ich keinen Hunger habe, setze ich mich an den Tisch. Der Fernseher läuft und übertönt die bedrückende Stille, die sich jedes Mal herabsenkt, wenn wir beim Essen sitzen. Meine Großmutter fragt mich immer das Gleiche: Wie’s in der Schule war, ob ich drangekommen bin, ob ich viele Hausaufgaben aufhabe. Und ich antworte jeden Tag das Übliche. Wir klingen wie eine kaputte Schallplatte. Doch heute habe ich ein schlechtes Gewissen. Heute fehlst du mir. Zum Glück kommt Rosa um zwei. Mit ihr kann ich ein wenig lockerlassen undzeigen, dass ich nicht so gut drauf bin. Sie würde es sowieso merken. Sie weiß, wie schwer es ist. Das merke ich daran, wie sie mich ansieht, wie sie die Dinge in deinem Zimmer berührt. Sie ist sanft und kraftvoll zugleich.
Manchmal glaube ich, ich müsse anfangen zu schreien, einfach so, ganz plötzlich. Schreiend nach dir rufen, während wir bei Tisch sitzen, genau wie du, wenn das Essen fertig war und ich vor dem Computer hockte und einfach nicht kam. Ich erinnere mich noch an diese Szene in dem Film Incompreso , als der kleine Junge unter der Dusche steht und wie gewohnt nach seiner Mama rufen will und der Ruf ihm im Halse steckenbleibt, weil seine Mutter tot ist. So etwas passiert. Doch ich würde es nicht aus Versehen tun, sondern weil ich diese unwirkliche Stille, die deine Abwesenheit noch unerträglicher macht, nicht ertrage.
Als ich aufgegessen habe, gehe ich sofort in mein Zimmer und lasse Nonna allein die Küche aufräumen. Ich schalte den Computer ein und sehe eine Nachricht von Sonia, die mir schreibt, sie habe mit Giovanni geredet und sei verzweifelt, weil er nichts mehr von ihr wissen will. Sie hat fast sämtliche Silben durch diese albernen, blöden Icons ersetzt, und mein erster Impuls ist, alles zu schließen und sie zu ignorieren. Doch als sie mich fragt, ob sie zu mir kommen kann, antworte ich »okay« und lasse mich aufs Bett fallen. Um nicht alleine zu bleiben, ist mir heute sogar Sonia recht. Vielleicht war ich deshalb heute Morgen mit Gabriele zusammen. Vielleicht. Auch.
Ich schließe die Augen, denke an die Küsse von vor wenigen Stunden, an Gabrieles Haut auf meiner, und frage mich, was ich empfinde, ob ich ihn wiedersehen will. Nicht mal Handynummern haben wir ausgetauscht. Schlechtes Zeichen.Was für eine beknackte Losergeschichte, denke ich. Würde ich sie jemandem erzählen wollen, wüsste ich nicht, wie. Sie hat weder Hand noch Fuß.
Sonias Augen sind rot und geschwollen. Hoffentlich hat sie niemand so gesehen. Kaum sind wir in meinem Zimmer, fängt sie auch schon an zu schluchzen. Dann zieht sie die Nase hoch, und als sie endlich zu erzählen beginnt, bricht es regelrecht aus ihr heraus. Giovanni ist mit der anderen nicht mehr zusammen, aber er denkt gar nicht daran, wieder mit ihr zusammenzukommen, das hat er ihr heute früh gesagt. Er sei in keine verliebt (schöner Trost), und auch ihr kleines Intermezzo letzten Sommer sei für ihn nie was Ernstes gewesen. Seit zwischen ihnen Schluss sei, habe er nicht mehr an sie gedacht. Erstaunlich, dass ein Typ wie er so ehrlich sein kann. Ich dachte, der würde einem bis zum Abwinken was vormachen, statt einem reinen Wein einzuschenken. Ich versuche mir vorzustellen, wie er sie wohl angesehen hat, ob er aufrichtig geklungen hat wie jemand, der weiß, dass der andere ihm nichts bedeutet, weil ihm gerade niemand etwas bedeutet, oder gewohnt überheblich, weil er jedes Mädchen
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