Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Landorff
Vom Netzwerk:
Traditionspflege gelegt habe. Und der Bürgermeister schrieb, zu dieser Tradition gehöre Frau Maria Unterganzner. Italiener wie Österreicher könnten sich das Hotel ohne sie nicht vorstellen. Man bitte darum, dies zu berücksichtigen.
    Maria war sehr schmal und wurde mit den Jahren immer dünner, so dass man schnell den Eindruck bekommen konnte, schon ein kleiner Windstoß könne sie umwehen. Aber dieser Eindruck war ganz falsch. Maria fehlte niemals, nicht einen Tag. Sie hatte manchmal Fieber und des Öfteren schwere Gelenkschmerzen, aber sie erschien immer zur Arbeit. Sie hatte eine sanfte Stimme und wirkte sehr warmherzig. Wer sie aber besser kannte, wusste, dass sie keine großen Gefühle zuließ. Im Grunde prallte alles an ihr ab, die kleinen und die großen Schicksalsschläge. Was eben so passierte in einem Hotel, über die Jahrzehnte – Maria stand am nächsten Tag auf und machte ihre Arbeit.
    Sie redete nie über vergangene Zeiten. Schon gar nicht über die vielleicht härteste Zeit, die das Hotel erlebt hatte. Die Besitzerin war plötzlich schwer krank geworden, konnte nicht mehr arbeiten. Der Ehemann war nicht da, er war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Man merkte dem Hotel an, dass es keine Führung hatte. Die Krise endete erst mit dem Tod der Chefin. Mehr als dreißig Jahre war das her. Als das Hotel zum 80. Geburtstag von Maria eine Feier ausrichtete, wollte man auch den kleinen Jungen einladen, der damals mit seiner kranken Mutter im Hotel gelebt hatte. Sein Name war Gabriel Tretjak. Man dachte, es würde Maria freuen, wenn er als längst erwachsener Mann bei dem Fest auftauchen würde. Es war gar nicht so leicht gewesen, seine Adresse ausfindig zu machen: München, Sankt-Anna-Platz. Man schickte die Einladung zweimal los. Doch Tretjak reagierte nicht, es kam nicht einmal eine Absage von ihm.
     
    An diesem Tag begann Maria ihre Spätschicht wie an jedem anderen Tag mit einem kurzen Gespräch an der Rezeption. Sie fragte immer, welche Gäste einen Titel hätten, wer Doktor sei, Herr Professor oder Herr Magistrat. Oder auch Frau Professor, Frau Doktor, wie es in letzter Zeit häufiger vorkam. Sie liebte Titel, und sie liebte es, ihre Gäste mit ihren Titeln anzusprechen, wenn sie ihnen begegnete. Zwischen halb sechs und sechs deckte sie die Betten in den Zimmern auf. Sie mochte das und machte es auf eine besondere Weise: die weißen Laken bekamen von ihr einen speziellen Knick. Ein Gast hatte ihr einmal gesagt, es sehe ein bisschen aus wie das abgeknickte Ohr eines großen weißen Hasen.
    Maria wusste, dass im Zimmer 242 ein Herr Professor abgestiegen war. Ein neuer Gast, der noch nie vorher im
Blauen Mondschein
gewesen war. Um kurz vor sechs klopfte sie an die Tür und betrat das Zimmer, als niemand reagierte. Zuerst fiel ihr der große Blumenstrauß auf, der neben dem Fernseher stand. Es waren bunte Rosen, viele Rosen in allen möglichen Farben. Der Strauß kam sicher nicht vom Hotel, das wusste Maria. Sie stellten nur kleine Blumensträuße in die Zimmer, immer mit Blumen aus dem Garten. Dort wuchsen nur gelbe Rosen und ein paar wenige orange.
    Erst danach fiel Maria auf, dass der Herr Professor doch im Zimmer war. Er lag im Bett, zugedeckt von den weißen Laken, die nicht mehr weiß waren, sondern von einem tiefen Rot durchtränkt. Maria bemerkte, dass überall im Zimmer 242 Blut war, am Boden, an der Decke. Sie schrie nicht. Sie verließ das Zimmer, schloss die Tür und lief den Gang bis zur Treppe, vielleicht ein ganz klein wenig schneller als sonst. Maria ging die zwei Stockwerke hinunter und sagte an der Rezeption Bescheid, dass etwas passiert war.

Fünfter Tag
15. Mai
    Mörlbach, Jedlitschka-Hof, 0 Uhr 15
    Ein Mann sollte nicht bemüht sein, anderen zu zeigen, dass er etwas wert ist. Er sollte sich selbst etwas wert sein. Das macht ihn attraktiv. Gabriel Tretjak war Student, als er diese Sätze gelesen hatte – in einem Interview mit einer französischen Filmschauspielerin, für die er schwärmte. Sie wolle, sagte die Schauspielerin, nicht gleich sehen, dass ein Mann einen teuren Anzug trug. Sie wolle, nachdem sie mit ihm im Bett gewesen sei, das über den Stuhl geworfene Jackett anfassen und
fühlen
, was er sich wert sei, Kaschmir zum Beispiel, am besten handrolliert. Tretjak erinnerte sich an diese Sätze. Und er erinnerte sich, wie sehr es ihn als Kind beeindruckt hatte, dass Rolls Royce im Fahrzeugbrief unter der Rubrik Leistung angeblich keine Zahl angab, sondern nur

Weitere Kostenlose Bücher