Der Regler
Lars immer gestimmt. Wie jetzt auch, noch vor zwei Stunden, unten auf der Terrasse. Natürlich hätte sie stutzig werden müssen, dass er sie plötzlich umarmte, das ständige »Mama, Mama«. Es hatte in letzter Zeit nie etwas Gutes bedeutet, wenn er so gefühlig wurde. Als wäre diese Süßlichkeit die Ankündigung des nächsten Aggregatszustands.
Lars war zehn, als der Klassenlehrer erstmals zu einem Gespräch bat. Mitschüler würden sich beschweren, dass er sie bestehle, dass er sie schlage. Kurz darauf stand die Polizei vor der Tür. Er hatte im Kaufhaus zwei Computerspiele geklaut und war dabei erwischt worden. Lars war elf, da musste er die Schule wechseln, und im selben Jahr noch fanden sie für ihn eine Privatschule. Er war zwölf, als Konrads Mutter anrief und sagte, die beiden könnten sich von nun an nicht mehr treffen. Es seien verschiedene Dinge vorgefallen, sie wolle nicht darüber sprechen. »Ersparen Sie das mir und uns«, sagte sie. Und: »Frau Poland, ich kann es nicht anders ausdrücken, ich habe Angst vor Ihrem Sohn.«
Der erste Therapeut, den ein Jugendrichter Lars aufzwang, fragte sie, ob sie wisse, dass ihr Sohn gern Tiere quäle. Der bislang letzte Arzt, der mit ihr über ihren Sohn gesprochen hatte, vor etwa sechs Wochen, fragte sie, ob sie eigentlich wisse, dass ihr Sohn drogensüchtig sei. Er nehme alles, was er kriegen könne. Hasch, Crack, Heroin. Lars war vier Tage zuvor vierzehn Jahre alt geworden. Anfangs hatte sie nicht geglaubt, was ihr andere über ihren Sohn erzählten, doch es hatte immer gestimmt.
Es war nicht leicht gewesen, den Leiter des Erziehungsheims zu überreden, Lars für den Trip nach Kochel Ausgang zu geben. Seit zwei Monaten war er dort untergebracht, so hatte es der Richter angeordnet. Sie glaube, die Reise sei wichtig für ihn, hatte sie gesagt. Und: »Ich werde ihn wieder zurückbringen.«
»Mama, es wird alles gut werden«, hatte Lars auf der Terrasse gesagt, »versprochen.« Sie wusste inzwischen genau, was die Mutter von Konrad gemeint hatte, als sie sagte, sie habe Angst vor ihm.
Das Hoteltelefon neben dem Bett klingelte. Jemand von der Rezeption war dran. Man habe inzwischen mit dem Taxifahrer gesprochen, der den Sohn abgeholt hatte. Es sei keine lange Fahrt gewesen. Sie hätten zweimal bei einem Geldautomaten gehalten, und dann sei es weiter zum Bahnhof gegangen. Da sei er ausgestiegen. Und noch etwas: Er habe den Taxifahrer überredet, die Fahrt auf die Zimmerrechnung zu schreiben. 16 Euro 40. War das in Ordnung?
»Natürlich«, sagte Charlotte Poland, »natürlich.«
Lars, ihr Sohn, 14 Jahre alt. Weißes, glattes Gesicht. Blonde, verstrubbelte Haare. Ein Piercing in der Lippe. Ein kleines Tattoo im Nacken, ein blauer Drachen. Ihr Sohn, den auf den ersten Blick immer alle mochten. Die Diagnose der Ärzte konnte man ja auch nicht sehen. Lars, ihr Sohn, der chronische Lügner.
Es war eine Persönlichkeitsstörung. Er war nicht in der Lage, sich vorzustellen, was morgen sein würde. Zu erleben, zu fühlen, dass das Leben mehr war als der Augenblick. Die Währung des Augenblicks war für Lars die Lüge. Mama, es wird alles gut. Solche Sätze erzielten Wirkung. Auch wenn das Taxi schon wartete. »Ihr Sohn«, hatte ein Therapeut gesagt, »kann mit dem Wort ›später‹ nichts anfangen.« Moral ohne Zeitdimension funktioniere nicht. In der Therapie müsse man versuchen, ihm Zeitbrücken zu bauen. Nur so könne er aus seinem morallosen Zustand herausfinden.
Es gab bei Lars keinen doppelten Boden. Es gab keine versteckten dunklen Seiten. Es gab
nur
dunkle Seiten, dachte sie. Nichts sonst. Sie richtete sich auf, setzte sich auf die Bettkante. Sie betrachtete ihren nackten Körper im Spiegel. Manchmal war ihre linke Brust ein wenig größer als die rechte. Wie heute. Mein Kind ist ein Monster, dachte sie. Sie merkte gar nicht, dass sie jetzt laut zu sprechen anfing. Dass sie zu dem Mann sprach, dessen Idee es gewesen war, hierher zu kommen. »Paul«, sagte sie, »mein Sohn ist ein Monster. Man muss dieser Wahrheit ins Auge schauen. Es kann doch sein, Paul, dass nicht nur du ein Monster als Sohn hast – sondern ich auch.«
Es war kurz vor Weihnachten gewesen, vor einem knappen halben Jahr, als sie über ihre Söhne gesprochen hatten. Charlotte hatte gerade erfahren, dass gegen Lars ein weiteres Verfahren wegen Körperverletzung vorlag. Sie erzählte Paul davon und breitete ihre Leidensgeschichte vor ihm aus. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht
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