Der Regler
Gabriel Tretjak, dass alles wie verabredet auf dem Weg sei …
Hatte sie einen Fehler gemacht? Hätte sie nicht selbst mit ihrem Mann und ihrer Tochter sprechen müssen? Was war ein neues Leben wert, das von einem anderen Menschen, einem Fremden, aufgebaut wurde? Was war ihr altes Leben noch wert, wenn sie es von einer Art Abrissunternehmen zerstören ließ? Dieser Tretjak war ihr ja durchaus sympathisch gewesen, und wenn er ihr gegenübergesessen und auf seine klare, ruhige Art mit ihr gesprochen hatte, war sie sich sehr sicher gewesen, dass es richtig war, was sie tat. Man nahm für vieles im Leben die Hilfe anderer in Anspruch, die Hilfe von Profis, immer dann, wenn man nicht weiterwusste, wenn man mit seinen Fähigkeiten am Ende war, bei einem tropfenden Wasserhahn, bei Schulproblemen der Kinder, bei einem Hautausschlag … Und sie hatte nicht mehr weitergewusst.
Aber jetzt, wo Tretjak nicht mehr da war und sich in ihrem Kopf von einer realen Person langsam zu einer fast unwirklichen Idee verwandelte, kam er ihr zunehmend unheimlich vor. Gestern Nacht war sie drauf und dran gewesen, ihre Sachen zu packen, das Hotel zu verlassen und nach Lissabon zum Flughafen zu fahren, um für die nächste Maschine nach Deutschland einzuchecken. Sie konnte Peter um Verzeihung bitten, sie konnte alles ungeschehen machen … Doch da waren auch die anderen Gefühle, die in diesen Cocktail einflossen, der sie seit Tagen in einem Zustand zwischen Übermüdung und rauschhafter Nervosität hielt. Gefühle wilder Freude, die sie ganz plötzlich überfielen, unberechenbar, anlässlich ganz banaler Eindrücke, dem Geruch frischer Wäsche, dem Anblick einer alten Frau, die vor einem Café saß. Die wilde Freude auf ein neues Leben, auf einen neuen Geschmack von Alltag.
In den meisten Hotels, die Melanie Schwarz kannte, dominierte die Rezeption das Foyer, breit, schwer, hässlich. Im
Palacio de Seteais
war das anders. Beinahe übersah man sie, wie sie sich so in einer kleinen Nische versteckte, fast schüchtern, als wäre sie darauf bedacht, die Harmonie des herrlichen Raumes nicht zu stören. Das Paket, das ihr der Rezeptionist aushändigte, war etwa vierzig Zentimeter lang, zwanzig Zentimeter breit und zehn Zentimeter hoch, braunes Packpapier, nur ein Namen als Absender: Gabriel Tretjak. Der Herr am Empfang hieß Senhor João und ähnelte dem Schauspieler Omar Sharif, den Melanies Mutter angehimmelt hatte. Er erklärte ihr, dass das Paket per Kurier direkt vom Flughafen Lissabon gebracht worden sei.
»Danke«, sagte Melanie Schwarz, aber sie war sich nicht sicher, ob das Wort tatsächlich ihren Mund verlassen hatte oder von ihrem Herzklopfen erstickt worden war. Sie nahm das Paket und ging auf ihr Zimmer. Sorgfältig schloss sie die Tür hinter sich ab, betrat sofort die Terrasse und legte das Paket auf den großen runden Steintisch. Dann ging sie zurück ins Zimmer und schenkte sich ein Glas des japanischen Whiskeys ein, der auf der Kommode stand. Jemand hatte dafür gesorgt, dass schon eine Flasche auf ihrem Zimmer stand, als sie angekommen war. Peter hatte diesen Whiskey einmal von einer Geschäftsreise aus Japan mitgebracht, mit der Bemerkung, er gelte unter Whiskeykennern als der beste der Welt. Eigentlich trank Melanie keinen Whiskey, aber an diesem hatte sie sich in den folgenden Wochen festgetrunken, wie sie selbst es genannt hatte. Er war ihr Begleiter geworden, nicht nur bei geselligen Anlässen, auch in vielen Nächten, die sie allein im Potsdamer Haus zubrachte, er hatte sie dazu gebracht, ihre alten Schallplatten aufzulegen, er hatte sie in Selbstmitleid versinken lassen oder zu einer aggressiven Entschlossenheit angestachelt, von der am nächsten Morgen oft genug nur zerknüllte Briefentwürfe übrig geblieben waren.
Melanie Schwarz trat an den Kleiderschrank im Zimmer und öffnete die Türen. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber sie nahm ein Minikleid vom Bügel und legte es aufs Bett. Es war hellblau, mit einem kleinen weißen Ornament unter dem raffinierten Rückenausschnitt. Sie hatte es in einer Boutique in Berlin gekauft, und die Verkäuferin hatte ihre Frage, ob man nicht zehn Jahre jünger sein müsse, um ein solches Kleid zu tragen, mit dem Satz beantwortet, junge Mädchen könnten sich ein solches Kleid doch gar nicht leisten. Melanie Schwarz zog ihre Jeans aus, ihr T-Shirt und nach kurzem Zögern auch ihre Unterwäsche. Dann streifte sie das Kleid über, zum ersten Mal seit der Umkleidekabine in
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