Der Regler
gewusst, dass Paul überhaupt einen Sohn hatte. Paul, der mit Nachnamen Tretjak hieß, sagte: »Lars ist fast noch ein Kind. Er ist kein Monster, und er wird auch keines.« Da kenne er sich aus. Er habe seit vielen Jahren keinen Kontakt zu seinem Sohn Gabriel. Aber eines wisse er ganz sicher: Er verdiene den Namen Ungeheuer. Und, sagte Paul Tretjak damals, er wisse sehr wohl, dass er daran eine gewaltige Mitschuld trage.
Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche und drückte die Nummer von Paul Tretjak. Es läutete drei Mal, dann ging er ran.
»Hallo, Charlotte.«
Sie hörte gern seine Stimme, mochte es, wie er ihren Vornamen aussprach, die Betonung auf Char
lotte
. Sie duzten sich noch nicht lange. »Hallo, Paul. Wo bist du gerade?«
»Wo ich immer bin. Über den Wolken, weißt du doch.«
Über den Wolken
bedeutete in seinem kleinen Haus hoch über dem Lago Maggiore, über dem Ort Maccagno. Das Häuschen hatte drei Zimmer, auf zwei Stockwerke verteilt. Große Fenster mit direktem Blick auf den See und die angrenzenden Berge. Dazu gehörte ein riesiges Grundstück mit vielen Palmen und Obstbäumen sowie einem Wald, der sich über einen Steilhang erstreckte. Es gab nur einen Haken: Man kam nicht mit dem Wagen hin. Man musste einen sehr steilen Fußweg nehmen, vom Ort dauerte es gut zwanzig Minuten.
Sie sah das Bild vor sich, wie Tretjak mit dem Handy auf und ab ging, im Wohnzimmer, vor dem Kamin, dann draußen auf der Terrasse. Er war groß und massig, man sah ihm nicht an, dass er noch dieses Jahr siebzig wurde. Sie überlegte kurz, ob es eine Ähnlichkeit gab zwischen Vater und Sohn – dem Mann über den Wolken und dem Mann, den sie in dem italienischen Restaurant in München beobachtet hatte. Das Äußere von Menschen zu beschreiben war nicht ihre Stärke. Aber feststand, dass beide ziemlich gut aussahen.
»Wie ist die Lage?«, fragte Tretjak.
»Lars ist abgehauen. Mit meinem Geld. Wieder die gleiche Geschichte.«
»Wo ist er hin?«
»Ich weiß nur, dass er mit dem Taxi zum Bahnhof gefahren ist.«
»Glaubst du, er ist jetzt in München?«, fragte Tretjak.
»Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.«
Beide schwiegen einen Moment, dann fragte sie: »Gibt’s bei dir was Neues?«
»Ja«, antwortete er, »du kannst einen neuen Versuch mit meinem Sohn machen. Wieder in der
Osteria
, übermorgen, ab 20 Uhr.«
»Darf ich dich etwas fragen, Paul?«
»Was denn?«
»Du hast seit Jahren keinen Kontakt mit deinem Sohn. Woher weißt du dann, wann er wo zu Abend isst?«
Paul Tretjak antwortete nicht, sondern sagte zum Abschluss des Gesprächs: »Charlotte, ich setze mich morgen früh ins Auto und bin mittags bei dir in Kochel.«
Sintra, Portugal, 17 Uhr
Der dunkelgrüne Rover, der für sie bereitgestellt worden war, passte perfekt zu den Hecken. Zufall oder Absicht? Alles in diesem Hotel war geschmackvoll: die Farbe der Teppiche im Eingangsbereich, die Stoffbezüge der antiken Möbel und die wertvollen Tapeten. Melanie Schwarz bewunderte, wie harmonisch sich alles zusammenfügte, als habe es sich über Jahrhunderte hin so entwickelt. Das Hotel
Palacio de Seteais
war früher das Herrenhaus der Familie des Marquês de Marialva gewesen. Eine Allee perfekt geschnittener Eukalyptusbäume säumte die Auffahrt. Der Blick aus den Fenstern und von den Terrassen erstreckte sich hinunter über die Stadt Sintra zum Atlantik.
Es war später Nachmittag. Melanie Schwarz parkte den Rover nah am Eingang des Hotels unter einem der Bäume und dachte an ihr Haus in Potsdam. Peter Schwarz war ein großzügiger Mann, und sie hatten sich viel Mühe bei der Einrichtung gegeben, eine befreundete Innenarchitektin hatte ihnen geholfen. Doch wenn sie ehrlich war, hatte ihr Haus nie wirklichen Charakter ausgestrahlt.
Wie es Peter wohl ging? Wenn sie an ihn dachte, zog sich ihr Magen zusammen. Seit fünf Tagen war sie nun hier an der portugiesischen Küste, fünf Tage und fünf Nächte, in denen die Stunden auf merkwürdige Art ineinandergeflossen waren. Sie hätte nicht mehr sagen können, wann sie in dem wundervollen Speisesaal gegessen hatte, ob sie überhaupt etwas gegessen hatte oder nur auf dem Teller herumgestochert, wie oft sie den Pool aufgesucht hatte, nur um nach kurzer Zeit die Liege wieder zu verlassen, wie viele Stunden sie nachts auf der großen Steinterrasse ihres Zimmers auf und ab gewandert war. Seit ihrer Abreise aus Deutschland hatte sie mit niemandem gesprochen. Einmal war ihr eine Nachricht ausgerichtet worden, von
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