Der Regler
Einmal weinte der kleine Gabriel, weil er auf der Treppe gestürzt war und sich die Knie aufgeschlagen hatte. Gabriel war da etwa zehn Jahre alt. Ein Knie blutete, und er weinte und weinte, und plötzlich rief er nach seinem Vater, »Papa, Papa, wo ist mein Papa?« Und die Einzige, die da war, war eine seiner Tanten. Sie war nett, sicher, sie versuchte ihn zu beruhigen, zu trösten, und sie sagte auch irgendetwas wie »Papa später, Papa später«. Aber das Zimmermädchen Maria, das die Szene beobachtete, hatte ein Gefühl, das sie sich auch nach über dreißig Jahren in Erinnerung rufen konnte: Der Junge hatte Angst vor seiner Tante, vor der Frau mit dem Kopftuch, die er nicht verstand.
Die zweite Erinnerung war nicht viel besser. Der kleine Gabriel saß in seinem Kinderzimmer auf dem Bett, wie erstarrt, nicht ansprechbar, vor sich auf dem Schoß sein Stofftier, den weißen Tiger. Maria schüttelte ihn, Maria nahm ihn in den Arm. Keine Reaktion. Draußen hört man die Schreie der Mutter, die, wie häufig, so starke Schmerzen hatte, dass kein Schmerzmittel mehr half. Diesmal dauerte es Stunden, bis das Morphium dann doch irgendwann wirkte. Als die Mutter längst schon schlief, saß Gabriel immer noch regungslos auf seinem Bett. Maria erinnerte sich, dass sie den Kinderarzt riefen. Der gab ihm eine Spritze, und dann ging es irgendwann wieder.
Horrorgeschichten, absolute Horrorgeschichten. Und dann erzählte Maria noch eine andere Geschichte, eine schöne Geschichte, eigentlich. Nach dem Tod der Mutter gab es niemanden, der für den kleinen Gabriel sorgen konnte. Die türkische Familie, die er nicht verstand? Der Vater, der abgehauen war? Nein. Also übernahmen das Hotel und die Stadt die Verantwortung, so musste man das wohl sagen. Der damalige Bürgermeister übernahm die Vormundschaft. Einer seiner Verwandten hatte auf den Hügeln über Bozen einen Bauernhof, mit einer großen Familie, die Gabriel aufnahm. Nach der Schule kam er jeden Mittag ins Hotel, wo Maria für ihn ein Essen kochte. Er war also ein Sohn Bozens, und sicher, sagte Maria, seien schon einige enttäuscht gewesen, dass er sich nach dem Abitur nie mehr gemeldet habe, bei keinem. Aber sie, sagte Maria, habe ihn verstanden. »Der musste weg, ein neues Leben anfangen.«
Kommissar Innerhofer bedankte sich für Marias Aussage und brachte sie zur Tür.
Klar war jetzt nur eines: Irgendjemand wollte, dass die Geschichte dieser Kindheit bekannt wurde.
Bitte erzählen Sie das der Polizei
, hatte dieser Jemand auf das Pergament geschrieben. Und er konnte ein Doppelmörder sein. Innerhofer stand am Fenster in seinem Büro, er sah auf die schmutzigbraune Mauer des gegenüberliegenden Hauses, von der der Putz abblätterte. Er war davon überzeugt, dass dies die hässlichste Aussicht in ganz Bozen war. Aber für den Moment war es ihm egal. Der Mord an dem Professor war durch die Aussage des Zimmermädchens näher an sie herangerückt, er hatte etwas mit Bozen zu tun. Die Hoffnung, es handele sich um einen ermordeten Durchreisenden, der nur durch einen Zufall hier gestorben war, hatte sich erledigt.
Was war der Zweck der Botschaft an die alte Maria? Für einen kurzen Augenblick fragte sich der Kommissar, ob die alte Frau möglicherweise in Gefahr war, ob er etwas tun musste. Doch dann verwarf er den Gedanken. Warum sollte jemand einem kleinen verhutzelten Zimmermädchen etwas antun?
Innerhofer ließ sich von der Auskunft mit dem Mann verbinden, den Maria erwähnt hatte: dem Kinderarzt von Gabriel Tretjak, der damals öfter zu dem verstörten Jungen gerufen worden war. Maria hatte gesagt: »Der hieß wie Sie, Innerhofer.«
Innerhofer hießen Dutzende in Bozen. Wenn Innerhofers miteinander sprachen, hatten sie eine gewisse Routine. Gut, sagte der Arzt am Telefon, diesmal ist die Sache ja einfach, Sie sind der Herr Kommissar, und ich der Herr Doktor.
Der Herr Doktor war damals ein junger Arzt gewesen, heute war er alt, aber immer noch im Dienst. Er konnte sich erinnern an den armen kleinen Gabriel. »Was ist aus ihm geworden?«, fragte er.
»Geschäftsmann in München, wohl ziemlich erfolgreich.«
»Was wollen Sie von mir wissen, Herr Kommissar?«
Leider wusste Innerhofer das auch nicht so recht. Der Arzt sagte, es habe ihn damals beeindruckt, wie das Kind sich gegen die schwere Wirklichkeit gestemmt habe. Gabriel habe sich gewissermaßen nach innen versenkt. Dazu passte auch, dass der Kleine schon früh anfing, sich für die Sterne zu interessieren. »Er
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