Der Regler
wenn sie mit ihm ins Bett ginge. Sie saß da und dachte, das ist jetzt doch ziemlich genauso wie in einem Kolportageroman, aber sie war damals schon alt genug, um zu wissen, dass das Leben manchmal tatsächlich so lief. Also schaute sie den Verleger an, der ein bisschen Bauch hatte, aber noch ganz gut aussah, und sagte: »Okay, wohin wollen wir gehen?«
Sie gingen in das große Hotel am Flughafen, und dieses Ritual behielten sie bei, auch als die Bücher von Charlotte Poland erfolgreich und immer erfolgreicher wurden. Alle zwei Monate trafen sie sich am Münchner Flughafen und verbrachten einen Nachmittag miteinander.
Es folgten weitere Affären, zahlreich und sehr unterschiedlich. Mal gut, mal weniger gut. Mal billig, mal weniger billig. Sie glaubte, glücklich zu sein. Exakt so stellte sie sich ihr Leben vor, ein Leben mit allen Facetten. Sie war sich bewusst, dass es manchmal so wirkte, als würde sie ihre Geschichten mit dem wirklichen Leben verwechseln. Aber warum auch nicht? Sie hatte sogar einen Psychotherapeuten aufgesucht, um in vielen Sitzungen ihr Leben innerlich abzusichern. Als persönliches Fazit hatte sie mitgenommen: Ja, sie brauchte das gelegentliche Spiel mit der Lüge, zur Abrundung ihrer Identität. Es war nicht wirklich böse; es passte zu ihr.
Wenn da nicht dieser kleine Junge gewesen wäre, der immer größer wurde und immer größere Probleme machte und den sie so liebte. Sosehr sie darunter litt, so wütend sie oft auf ihn war und ihn für Momente sogar hasste: Schon bald, nachdem die Schwierigkeiten mit Lars angefangen hatten, bildete sie sich ein, dass er wegen ihr so geworden war, zum Sinnbild ihres Lebens sozusagen. Ihr Sohn, der monströse Lügner, präsentierte ihr die Rechnung für ihr verlogenes Leben. In diesen Gedanken steigerte sich Charlotte Poland zunehmend hinein. Sie war nicht nur verantwortlich für Lars’ Schicksal, sie hatte es auch in der Hand, ihn zu retten! Sie war bereit, dafür ihr Leben auf den Kopf zu stellen. Sie wollte ihren Sohn zurückholen. Die Beendung ihrer Ehe war ein erster Schritt. Sie war entschlossen zu handeln, und sie war bereit, jeden Preis zu zahlen.
Sie wartete unten im Foyer, bestellte sich noch einen Kaffee, schwarz, ohne alles, wie immer. Sie trug ihr weißes Sommerkleid und den hautfarbenen BH , den sie manchmal auch wegließ, wenn sie ihr Gegenüber nervös machen wollte. Paul Tretjak gehörte nicht dazu. Er war ein Freund geworden in den letzten Wochen, ein Weggefährte für das, was nun kam. Sie schaute auf die Uhr. Paul müsste bald da sein. Er wollte eine SMS schicken, wenn er vorfuhr. Sie hatten nicht viel Zeit, sie mussten schnell weiter nach München. Paul hatte ihr drei Termine gemacht, die sie abarbeiten musste. Erst die beiden Drogentypen und dann am Abend das Treffen mit seinem Sohn Gabriel in der
Osteria
.
Paul hatte ihr vor einiger Zeit einmal einen Text von Sigmund Freud gegeben, aus den jungen Jahren Freuds, in dem er erklärte, warum er sich der Psychologie zuwandte. Im Kern ging es um die Frage, warum die Seele ein falsches Leben bestrafe. Weshalb etwa ein Mann, der sein Leben lang vor den Ängsten seiner Kindheit davongelaufen ist, genau von diesen Ängsten schließlich dramatisch eingeholt wird. Oder warum eine Frau sich das Leben nimmt, die immer allen vorspielen musste, eine starke, perfekte Frau zu sein, obwohl sie in Wahrheit genau das Gegenteil war. Freud fragte, wer denn diese Instanz sei, die entscheide, welches Leben richtig und welches Leben falsch sei. Und die beschließe, gewissermaßen Rache zu nehmen, wenn der Mensch auf dem falschen Kurs beharre. Freud nannte diese Instanz am Ende des Textes die Seele und kündigte an, sich sein Leben lang mit dieser Instanz beschäftigen zu wollen. Dazu gehörte auch, dass er, wie er es nannte, den Rächern der Seele den Kampf ansagte.
Charlotte hatte den Text gelesen und Paul gefragt, warum er ihn ihr gegeben hatte. »Frag mich nicht nach dem Warum«, hatte er nur kurz gesagt. »Warum ist für mich schon lange keine Kategorie mehr.«
Ihr Handy piepste.
Bin da. Paul.
Charlotte verließ die Eingangshalle und stieg in seinen Wagen, einen alten blauen Volvo, immer ziemlich dreckig und vermüllt. Diesmal hatte er wenigstens den Beifahrersitz von Unrat befreit.
»Gut siehst du aus«, sagte Paul.
»Danke«, sagte sie, »du auch.« Aber das stimmte nicht. Wie immer trug er eine alte Jeans und ein verwaschenes Jeanshemd. Seine Augen waren rot und verquollen. Er hatte wohl
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