Der Regler
schaute nach innen und nach oben, aber auf jeden Fall weg von dem Leben, das er täglich sah.«
Der Kommissar fragte, ob man an einer solchen Kindheit ein entscheidendes Moment festmachen könne. Der Doktor lachte und antwortete: »Na, eine solche Kindheit taugt jedenfalls als Erklärung für alles, was später passiert.«
Kommissar Innerhofer telefonierte danach noch zweimal. Er sprach Kommissar Maler ein paar Worte auf die Mailbox, informierte ihn über die Sache mit dem Zimmermädchen. Und er rief den Kollegen vom Kunsthandel an, dem er das Kuvert mit dem Pergamentschreiben rübergeschickt hatte. Ja, sagte der Experte, das sei nicht schwer zu erkennen gewesen: eine Seite aus einem mittelalterlichen, illuminierten Zyklus der Stadt Udine aus dem 16. Jahrhundert. Der vollständige Zyklus, der einige hundert Seiten umfasse, habe unschätzbaren Wert. Allein diese eine Seite dürfte einen Wert von etwa 10 000 Euro haben. Er habe schon in Udine angefragt, ob es Erkenntnisse gebe, wo sich der Zyklus befinde.
Kochel am See, 11 Uhr
Es war viel einfacher gewesen, als sie gedacht hatte. Am Ende war es immer einfach. Charlotte Poland beschloss, sich diesen Satz zu merken. Vielleicht konnte sie ihn in ihrem nächsten Buch gebrauchen.
Um kurz nach zehn Uhr morgens, noch in ihrem Hotelzimmer in Kochel, hatte sie ihren Mann angerufen und ihre Ehe beendet. 17 Jahre hatte sie gedauert, drei Monate und elf Tage. Sie hatte sich das noch ausgerechnet, kurz bevor sie die Anruftaste ihres Handys drückte. »Markus«, sagte sie, »ich will die Scheidung. Es ist das Beste für uns. Ich weiß es, und du weißt es auch. Im Grunde wissen wir das beide schon lange.«
Markus antwortete ziemlich rasch: »Vielleicht hast du recht.« Und dann versuchte er noch einen Witz, wie er so oft versuchte, mit einem Scherz eine bedrückende Situation leichter zu machen: »Na, wenigstens um das Sorgerecht von Lars werden wir uns nicht streiten.«
Prominente Paare gaben als Trennungsgrund gern an, sie hätten sich mit den Jahren auseinandergelebt. Charlotte Poland fand das gar keine schlechte Beschreibung: Zwei Menschen gehen zwei verschiedene Wege, zunächst immer nahe beieinander, in Ruf- und Sichtweite sozusagen, und merken erst gar nicht, dass sich durch Weggabelungen ihre Pfade immer weiter voneinander entfernen, so weit, bis sie sich schließlich in völlig verschiedenen Welten befinden. Charlotte war 25, als sie Markus kennengelernt hatte, der damals auf seinen fünfzigsten Geburtstag zuging. Sie war Studentin, wollte irgendetwas mit Schreiben und Journalismus machen. Er war IT -Unternehmer, hatte gerade seine Firma für einen hohen zweistelligen Millionenbetrag verkauft. Sie lernten sich durch Zufall in einem Hotel in Düsseldorf kennen. Er steckte mitten in der Nacht Zettelchen unter ihre Zimmertür. Er hatte für sie zwei kleine romantische Gedichte geschrieben. Vielleicht war dies der Moment, wo sie sich am nächsten gekommen waren, in all den Jahren.
Charlotte mochte seine großzügige Art, sein distanziertes Wesen, nie fragte er nach, nie rückte er ihr auf die Pelle. Bis sie bemerkte, dass er mit allen Menschen so umging, freundlich, unbestimmt, wie ein charmanter Moderator einer Fernsehsendung. Sie glaubte plötzlich zu erkennen, dass er sich in Wahrheit für niemanden interessierte, auch nicht für seinen Sohn Lars, der drei Jahre nach ihrer Heirat auf die Welt kam. Markus hatte ein paar Hobbys, er renovierte Villen in der Toskana und züchtete französische Bulldoggen, und irgendwie war auch seine Familie nur eine Art Hobby. Er blieb fern, er war emotional weder kalt noch warm. Doch er war immer freundlich und versuchte, Charlotte und Lars alle ihre Wünsche zu erfüllen. Charlotte war zu schlau, um Markus ändern zu wollen. Sie wählte einen anderen Weg: Auf eine Weise war Markus der perfekte Ehemann, um den äußeren Rahmen ihres Lebens auszustatten. Sie musste jetzt nur noch in dem inneren Ring so leben, wie sie es wollte.
Ihre erste Affäre hatte sie mit ihrem Verleger. Sie hatte ein paar flott geschriebene Artikel in Zeitschriften veröffentlicht und wollte sich nun einmal an einem Roman versuchen. Sie schrieb dreißig Seiten, den Anfang eines psychologischen Beziehungsromans, und schickte das Manuskript an den bekanntesten Verleger Münchens. Dem gefielen die Seiten, und noch besser gefiel ihm Charlotte Poland. Er traf sie zum Abendessen und gab ihr beim zweiten Grappa zu verstehen, dass er das Buch herausbringen würde,
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