Der Regler
der Mann hatte Probleme. Sie fragte sich, wie sie diesen Blick interpretiert hätte, wenn sie nicht über diese Probleme Bescheid gewusst hätte. Vielleicht hätte er sie misstrauisch gemacht.
Ihre Hand streichelte seinen Nacken. Er drehte sich auf den Rücken und schaute sie an, blinzelte gegen die Sonne. Sie küsste ihn noch einmal. Der Kuss war wieder weich, aber diesmal dauerte er länger, und die Haut seiner Hände war auch weich, so weich, dass man fast nicht merkte, wie sie schon überall unter dem Stoff ihres weißen Bikinis zugange waren. Der Strand auf dem sie lagen, war eine große weite Kiesbank, von überall einsehbar, sogar vom Ufer gegenüber. Sie spürte die Härte ihrer Brustwarzen, sie spürte die Härte in seiner Badehose. Aber sie spürte auch, wie jetzt ein Gefühl von ihr Besitz ergriff, dass sie hasste: Ihr Körper begann, sich zusammenzuziehen, als wäre er in Eiswasser geworfen worden, ihr Herzschlag, so schien es ihr, verlagerte sich ausschließlich in ihre Handgelenke, wo der Puls von innen gegen die Adern hämmerte, die Luft, die sie einatmete, bekam einen Geschmack von Eisen. Sie kannte diesen Zustand seit ihrer Kindheit, er kam immer dann, wenn sie sich in einen Wunsch verbissen hatte – noch mal Karussell fahren zum Beispiel –, später einfach nur, wenn sie besonders aufgeregt war. Zweimal in ihrem Leben war sie davon sogar ohnmächtig geworden.
Sie löste sich von ihm, stand auf und ging mit geübtem Schritt barfuß über die Steine zum Ufer. Sie bückte sich, hielt ihre Handgelenke eine Weile ins fließende Wasser. Dann drehte sie sich um. Tretjak hatte sich aufgesetzt. Ein gutaussehender Mann auf einem rotweißen Badetuch.
»Ich werde meinen Freundinnen nichts von dir erzählen«, rief sie laut gegen das Rauschen an. »Die schimpfen sonst mit mir. So ein Wirtschaftsheini mit BMW , fünfzehn Jahre älter, das geht gar nicht!«
Er lachte und rief zurück: »Ich bin aber ein guter Badmintonspieler!«
»Das haben schon ganz andere behauptet.«
Später, als sie das Schlauchboot am Stauwehr in Icking aus dem Wasser zogen und die Luft herauspressten, indem sie auf den beiden Wülsten herumtrampelten, fragte sie ihn nach seinen Eltern, nach seiner Kindheit. Es interessierte sie, welches Gemälde er pinseln würde. Aber er tat ihr den Gefallen nicht. »Kein Stoff für einen so schönen Moment«, sagte er nur. Dann küsste er sie und schulterte das Paket aus schwerem nassen Plastik. Es musste noch gut einen Kilometer getragen werden, steil bergauf durch den Wald zum Parkplatz der Reitschule. Sie hatte ihm erzählt, dass sie früher nur ein Auto in der Familie gehabt und deshalb ihre Mutter immer dort gewartet hatte.
Im Wagen fragte er sie: »Bist du morgen Abend schon verabredet? Wir könnten was essen gehen.«
»Morgen? Oh, ich dachte, wir könnten jetzt vielleicht … Ich habe Hunger …«
»Tut mir leid«, sagte er. »Heute Abend kann ich nicht. Ich habe noch … Ich muss …«
»Schon gut«, unterbrach sie.
»Osteria?«
Für einen Moment war er überrascht, dann lächelte er.
Sie sagte: »Ich habe Haken unter die monatlichen Rechnungen gemacht. So viele Haken.«
Am Anfang ihres kleinen Ausflugs heute hatte sie ihm eröffnet, dass sie die Steuerprüfung abgeschlossen habe, dass alles in Ordnung sei, er in den nächsten Wochen einen Bescheid zugeschickt bekommen werde. Sie fand den Zeitpunkt für diese Information perfekt, weil sie zur Entspannung beitrug. Nicht nur bei ihm, sondern auch bei ihr selbst. Tretjak war schließlich ein Mann mit allen möglichen Verbindungen, und wenn er sich bedrängt fühlte, konnte es ihm durchaus einfallen, auch noch im Finanzamt herumzufuchteln, um seine Steuerprüfung unter Kontrolle zu bekommen. Das hätte alles nur unnötig erschwert.
»Ich möchte morgen aber in ein anderes Lokal als die
Osteria
«, sagte sie, während Tretjak auf die Bundesstraße elf einbog. Und sie zog sich den Strohhut tief ins Gesicht.
München, Sankt-Anna-Platz, 18 Uhr
Der Anruf auf der Mailbox heute Morgen hatte ihr gerade noch gefehlt. Es war die blecherne Frauenstimme eines telefonischen Auftragsdienstes: eine Nachricht von Gabriel Tretjak, ob sie ausnahmsweise für ihre noch abwesende Mutter einspringen und seine Wohnung reinigen könne. Durch einen kleinen Unfall sei sie stark verschmutzt worden. Der Schlüssel für die Wohnung könne in dem italienischen Restaurant am Sankt-Anna-Platz abgeholt werden. Natürlich werde für alles extra und großzügig
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