Der Regler
bezahlt. Herzliche Bitte, herzlicher Gruß, Herr Tretjak.
Carolina Lanner hatte ein kleines Café in der Agnesstraße, gute Lage, mitten in Schwabing. Zehn Tische drinnen, drei kleine Tische draußen. Es gab selbstgebackenen Kuchen, selbstgeschmierte Brote, eine selbstgekochte Tagessuppe. »Selbst« hieß: Carolina backte, schmierte, kochte. Das Café öffnete morgens um acht Uhr und schloss um sechs. Carolina kam um sechs Uhr in der Früh und ging nie vor neun Uhr abends. Sechs Tage die Woche, nur sonntags war geschlossen. In einem guten Monat blieben ihr 2000 Euro, in einem schlechten Monat 500. Sie hatte eine Studentin, die ihr manchmal ein paar Stunden half, mehr Personal konnte sie sich nicht leisten.
Nur ihre Mutter half, wann immer sie konnte. Ihre Mutter war immer da, wenn man sie brauchte. Ein Leben ohne ihre Mutter? Undenkbar. Sie war nicht der Typ, der überlegt hätte, was das eigentlich für eine Beziehung war, zwischen ihr und ihrer Mutter. Es störte sie auch nicht, dass sie sich allmählich figurmäßig in Richtung ihrer Mutter entwickelte. Die Mutter war einfach die Mutter, und sie war eben die Tochter. Und es war überhaupt nicht vorstellbar, dass sie ihren ersten Kaffee nicht mit ihrer Mutter in ihrem Café trank. Und dazu aßen sie immer von dem selbstgebackenen Kuchen, jeder ein Stück, manchmal auch zwei.
Seit fast einer Woche war die Mutter nun schon in Argentinien. Als sie das eine Mal telefoniert hatten, hatte die Mutter ungemein glücklich gewirkt. Sie hatte regelrecht gesprudelt, immer wieder hatte sie gesagt: »Carolina, ich bin zu Hause.« Irgendwann hatte die Mutter angefangen zu weinen, glaubte Carolina wenigstens, und Carolina weinte auch, das war jedenfalls sicher. Am Ende hatten sie ausgemacht, dass sie nicht mehr telefonieren würden, weil es doch sicher viel zu teuer war. Und dass Carolina am Flughafen warten würde, wenn die Mutter am Sonntag landete.
Kurz nach 18 Uhr schloss sie die Tür ihres Cafés ab. Sie ging die Agnesstraße hinunter zur U-Bahn-Station. Es war kein schlechter Tag gewesen, sie hatte 22 Stück Johannisbeerkuchen verkauft, 24 Schmalzbrote und zwölf Käsesemmeln. Einmal umsteigen, dann war sie am Sankt-Anna-Platz. Wie vereinbart lag der Schlüssel zu Tretjaks Wohnung an der Theke des italienischen Lokals für sie in einem verschlossenen Kuvert bereit. Ihr brauner Mantel war viel zu warm. Sie schwitzte. Die Sonne hatte an diesem frühen Münchner Abend noch eine Menge Kraft.
Carolina Lanner war keine Frau, die sich viele Gedanken über ihr Leben machte. Es kam, wie es kam. Doch an diesem Abend gingen ihr ein paar Dinge durch ihren Kopf. Ob sie vielleicht auch mal nach Argentinien fahren sollte? War ja irgendwie ihre Heimat, auch wenn sie keinerlei Erinnerungen daran hatte. Spanisch sprach sie nur noch mit ihrer Mutter. Sie war jedenfalls gespannt, was die Mutter erzählen würde. Das Wichtigste war ihr in diesem Moment aber, dass sie diesem Mann, diesem Gabriel Tretjak, nicht begegnete. Er war am Telefon so merkwürdig gewesen. Erst organisierte er diese Reise, dann wirkte er so kalt. Hoffentlich bin ich da schnell wieder draußen, dachte Carolina, als sie um 18.22 Uhr Gabriel Tretjaks Wohnung aufschloss.
München, Restaurant
Osteria
, 20 Uhr
Als der Volvo in die Schellingstraße einbog, musste sie wieder an das Bild der Marionette denken. Sie hing an den Fäden von Paul Tretjak. Sie tat, was er wollte. Nicht mehr, nicht weniger. Sie fühlte sich nicht schlecht dabei. Sie war froh, sich an ein Drehbuch halten zu können.
Gabriel Tretjak saß wieder an demselben Tisch wie beim ersten Mal. Doch jetzt setzte sie sich dazu, ihm direkt gegenüber. Sie war plötzlich sehr aufgeregt, überraschend aufgeregt. Ihr Herz klopfte. Sie dachte daran, dass sein Vater nur ein paar Meter entfernt draußen auf der Straße im Auto wartete. Diese Vorstellung machte sie nicht unbedingt ruhiger.
Zwei Flaschen Mineralwasser standen auf dem Tisch, eine mit Sprudel, eine ohne. Er hatte ein Glas Champagner vor sich.
»Trinken Sie auch ein Glas?«
»Ja«, antwortete sie, »gern.«
Damit war der freundliche Teil des Gesprächs beendet.
»Lassen Sie uns keine Zeit verschwenden, Frau Poland«, sagte Gabriel Tretjak, »ich habe zwei Fragen. Sie werden sie mir beantworten, und dann werde ich gehen. Ich werde Sie dann morgen noch einmal telefonisch kontaktieren.«
Sie nickte und schwieg.
»Erste Frage: Warum wollten Sie mich neulich sprechen? Was war Ihr
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